Anna Strong Chronicles 06 - Gesetz der Nacht
wie ein Mädchen. Aber was würde mir das bringen?
Nichts außer einer Verhaftung. Ich kehre dem selbstgerechten Arschloch den Rücken zu und renne zum Auto. Weiter geht’s. Vielleicht ist Adele schon wieder zu Hause und hat einen Tipp für mich, wo ich Underwood finde. Sie weiß so viel über Lances Leben, dass sie bestimmt auch weiß, wo »die Jungs« gern abfeiern.
Ich gehe durch die Garage zurück ins Haus. Der MG ist immer noch weg. Allmählich werde ich weniger besorgt, sondern eher ärgerlich – auf Lance und auf mich selbst. Warum wollte er bei Underwood bleiben, statt mit mir nach Hause zu gehen? Warum habe ich ihn bleiben lassen?
Ich gehe die Treppe hinauf und rufe nach Adele. Keine Antwort. Dann höre ich etwas. Ein Stöhnen. Ich erstarre, halte ganz still und lausche.
Da ist es wieder. So leise, dass ich all meine Konzentration aufbieten muss, um es zu hören. Ein menschliches Ohr würde es niemals wahrnehmen. In der Stille, die darauf folgt, frage ich mich, ob ich mir nur etwas eingebildet habe. Könnte das der Wind gewesen sein? Nein.
Als ich es ein drittes Mal höre, spüre ich Schmerz in dem Laut. Mein Schrecken lässt meinen animalischen Instinkt anspringen. Ich spüre diesen Schmerz, weil ich ihn fühlen soll. Das weiß ich so sicher, wie ich mir gewiss bin, wessen Schmerz ich empfinde.
Lance. Irgendwo in diesem Haus. Nicht oben. Ich ignoriere das wilde Pochen meines Herzens und konzentriere mich. Lance, wo bist du? Keine Antwort. Nur ein weiteres gespenstisches Stöhnen. Es kommt von irgendwo unter mir. Aus einem Keller? Lance hat mir heute keinen Keller gezeigt. Warum ist Adele nicht da? Sie könnte mir sagen, ob...
Keine Zeit. Ich laufe zum logischsten Ort für eine Kellertreppe. Diese riesige Küche. Es gibt keine offensichtlichen Türen, die so aussehen, als könnten sie in einen Keller führen. Was jetzt? Ein Dutzend Küchenschränke reihen sich an der Rückwand und einer Seite des Raumes. Ich öffne ein halbes Dutzend Türen, bis ich die richtige erwische. Hinter dieser befinden sich keine Schrankfächer und Schubladen, sondern eine Treppe. Ich renne hinab in die Dunkelheit. Die Luft riecht muffig und trocken. Alter Wein, längst verzehrte Kartoffeln und Rüben, Staub. Und noch etwas. Blut.
Meine Vampiraugen haben keine Schwierigkeiten damit, im Dunkeln zu sehen. Sie freuen sich über die Finsternis. Meine Sinne werden schärfer, meine Instinkte noch wacher. Ich lausche und sehe mich um. Kein Laut mehr, keine Bewegung.
Ich taste den dunklen Keller mit meinem Geist ab und fühle es: Lance ist hier. Lance? Keine Antwort, bis auf die übliche Reaktion. Blitzschnell hat er mir seinen Geist verschlossen. Er versteckt sich vor mir. Aber er ist nicht schnell genug. Mit zwei großen Schritten habe ich den Raum durchquert. Ich entdecke ihn, er kauert in einer Ecke. Er ist nackt und krümmt sich schützend zusammen.
Mit meiner menschlichen Stimme sage ich: »Lance, warum hast du mir nicht geantwortet? Was ist los?«
Er drückt sich noch fester in seine Ecke. »Du musst gehen, Anna. Lass mich in Ruhe.«
Ich trete näher. »Du bist verletzt, das sehe ich doch. Was ist passiert?«
Geh weg. Bitte. Du machst es nur noch schlimmer.
Was mache ich schlimmer?
Jetzt bin ich bei ihm. Nah genug, um sein Gesicht zu sehen und seine Verzweiflung zu spüren. Nah genug, um die blutigen Spuren zu sehen, die sich quer über seinen geschundenen Rücken ziehen.
Kapitel 12
Ich schlage mir die Hand vor den Mund und ersticke einen Aufschrei. Ich frage nicht, wer ihm das angetan hat. Das ist gar nicht nötig, denn ich weiß es. Ich beuge mich hinunter, nehme seine Hand und drücke sie an mein Herz. »Ich helfe dir nach oben.«
Er weicht zurück, aber ich lasse ihn nicht los. Ein paar Augenblicke später gibt er nach und rappelt sich mit wackeligen Beinen hoch. Ich weiß nicht, wann Adele zurückkommen wird. Ich blicke mich nach etwas um, womit ich seinen nackten Körper bedecken kann. Auf dem Boden liegt eine alte Decke, die ich ihm um die Hüfte wickele. Er lässt sich von mir die Treppe hinaufführen. Im Licht sehe ich, was ihm angetan wurde. Peitschenhiebe, irgendetwas mit Zacken oder Stacheln. Aber da ist noch etwas. Eine weiße Substanz klebt in den Wunden und hält sie offen, so dass sie weiter bluten.
Der Geruch verrät es mir. Es riecht nach Meer. Salz?
Lance wendet mir den dumpfen Blick zu und beantwortet die Frage, die er in meinen Gedanken gelesen hat. »Salz verhindert, dass die Wunden eines
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