Anna Strong Chronicles 06 - Gesetz der Nacht
Wahrheit habe ich entsetzliche Angst, dass er nicht drangehen könnte. Das mag irrational sein, aber ich rufe immer wieder an, bis er mir sagt, dass er auf dem Weg zum letzten Shooting ist und gegen Mittag zum Flughafen fahren wird. Er will mich anrufen, wenn er in San Diego landet, damit ich ihn abholen kann.
Ich mache mir gerade die nächste Kanne Kaffee, als es an der Tür klingelt. Es ist sieben Uhr morgens, zu früh für Besuch. Nicht dass ich jemals Besuch bekäme. Jedenfalls nicht die Sorte, die einfach mal vorbeischaut. Um solchen Besuch zu bekommen, müsste man Freunde haben. Meine Freunde kann ich an drei Fingern abzählen. Frey macht sich gerade auf den Weg in die Schule, David ist verreist, Lance ebenfalls. In meinem Magen kribbelt es. Kein vampirischer Sinn, sondern das menschliche Bauchgefühl sagt mir, dass derjenige, der da vor der Haustür steht, nicht gekommen ist, um einen Blumenstrauß abzuliefern.
Ich schalte die Kaffeemaschine ein und gehe durch die Küche zur Haustür. Ich merke, wie nervös ich bin, als meine zitternde Hand beim ersten ungeschickten Versuch, die Tür aufzumachen, vom Türknauf abrutscht. Erst kriege ich mich und dann den Türknauf in den Griff und öffne die Tür. Detective Harris begrüßt mich mit einem Nicken. Eine uniformierte Polizistin steht schräg hinter ihm.
Harris und ich starren einander einen Moment lang an, ehe er sagt: »Entschuldigen Sie die frühe Störung. Ich habe Neuigkeiten für Sie. Darf ich hereinkommen?« Ich halte die Tür ein Stück weiter auf – zu einer deutlicheren Einladung bin ich nicht in der Lage. Meine Kehle ist trocken und wie zugeschnürt. Harris kommt herein, die Polizistin nicht. Sie baut sich neben der Tür auf, als ich sie wieder schließe. Mein erster Gedanke: Harris ist ein Mensch. Also müssen es menschliche Umstände sein, die ihn hierher führen. »O Gott. David ist doch nichts passiert, oder? Hatte er einen Unfall?«
Er schüttelt den Kopf. »Nein. Nicht David.« Er holt ein kleines Notizbuch aus der inneren Jackentasche, schlägt es auf, schaut auf eine Seite hinunter und blickt dann zu mir auf. »Sie waren kürzlich in Palm Springs?«
Jetzt wird mir klar, wie sehr ich mich getäuscht habe. Was auch immer geschehen sein mag, hat nicht allein mit der Welt der Sterblichen zu tun. Ich nicke. Und warte ab. »Haben Sie den ehemaligen Polizeichef Warren Williams getroffen, während Sie dort waren?«
»Ja.«
»Unter welchen Umständen?«
»Er war bei einem gemeinsamen Bekannten zu Gast.«
»Und der wäre?«
»Julian Underwood.«
Harris kennt die Antworten auf diese Fragen schon. Das merke ich daran, dass er nicht ein einziges Mal in seinem Notizbuch nachsieht oder sich etwas aufschreibt. Ich warte auf die Frage, deren Antwort er noch nicht kennt. »Wie war Ihr Eindruck von Williams, als Sie ihn bei Julian Underwood gesehen haben?«
Ich runzele die Stirn. »Mein Eindruck? Ganz normal.«
»Er hat nicht depressiv gewirkt? Oder unsicher, ängstlich?«
Wohl kaum. Er hatte es gerade geschafft, den Deal zu landen, um den wir das ganze letzte Jahr lang gerungen haben. Aber das kann ich schlecht erwähnen. »Worum geht es eigentlich? Ist Williams etwas zugestoßen?«
Harris klappt das Notizbuch zu und konzentriert sich auf mein Gesicht. »Wir haben seinen Wagen in der Wüste gefunden.
Ausgebrannt. Außerdem eine Schusswaffe und eine Patronenhülse. Seinen Ehering, seine Uhr. Es sieht so aus, als hätte er irgendeine Zündvorrichtung angebracht, um das Auto in Brand zu stecken. Anschließend muss er wieder eingestiegen sein, sie ausgelöst und sich dann selbst erschossen haben.« An diesem Szenario ist so viel faul, dass mir davon schwindelig wird. Ich kann Harris nur stumm anstarren, während Widersprüche in meinem Hirn herumzischen wie Schrotkugeln. Er starrt mich seinerseits aufmerksam an. Er beobachtet mich neugierig und nachdenklich, die Geduld in Person. Nervtötend.
Ich stoße gereizt die Luft aus. »Glaubt Mrs. Williams, ihr Mann hätte sich umgebracht?«
Innerlich schreie ich ihn an, dass Williams das natürlich nicht getan hat. Er war ein Vampir. Zweihundert Jahre alt. Seine sterbliche Ehefrau müsste besser als jeder andere wissen, dass ein so alter Vampir keinen Selbstmord begeht. Er würde jedes Problem, auf das er treffen könnte, einfach aussitzen, es überleben – oder aus der Welt schaffen. Hoffentlich sieht man mir diese Gedanken nicht an. Ich habe mich bemüht, mir jeglichen Ausdruck vom Gesicht zu wischen,
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