Anna Strong Chronicles 06 - Gesetz der Nacht
also die E-Mails der letzten Tage gelesen, meine Buchführung auf Vordermann gebracht, einen Haufen aufgelaufenen Papierkram (Mea culpa, David) sortiert und abgelegt, den Stapel amtlicher Bekanntmachungen auf dem Aktenschrank durchgelesen, die letzte Flasche Bier aus dem Kühlschrank getrunken habe und Williams immer noch nicht angerufen hat, bin ich so gereizt und kribbelig, dass ich einem Huhn den Kopf abreißen könnte.
Ich werfe die letzte leere Flasche in den Müll und trete hinaus auf die Terrasse hinter unserem Büro. Der Nachmittag ist still und klar, die Skyline der Stadt spiegelt sich im Wasser. Ich schaue zu, wie Segelboote von ihren Motoren getrieben auf der Bucht hin und her schippern, während sie auf den Wind warten. Als ich noch menschlich war, hätten David und ich einen solchen Nachmittag im Green Flash verbracht, einem Restaurant um die Ecke von meinem Strandhaus. Wir hätten draußen gesessen, Bier getrunken, Nachos gegessen und die Menschenmengen beobachtet, die die Strandpromenade entlangflanierten.
Nostalgie überkommt mich. Diese Tage habe ich damals gar nicht gewürdigt. Das ist eine dumme menschliche Schwäche – die einfachen Freuden nicht zu schätzen, weil sie eben einfach und alltäglich sind, für immer ein selbstverständlicher Teil des Lebens. Glaubt man jedenfalls.
Ich setze mich auf einen Liegestuhl, kippe ihn nach hinten und lege die Füße aufs Geländer. Im vergangenen Jahr ist so viel passiert, so viel hat sich verändert. Diese klischeehafte Phrase »nicht mehr die, die sie einmal war« hört man ständig. In meinem Fall kann man sie wörtlich nehmen. Letzten Juli war meine größte Sorge, wann ich meinen Freund Max wiedersehen würde, der damals für die Drogenbehörde gearbeitet hat. Ich war nicht in ihn verliebt, aber er war toll im Bett, und unsere lockere Beziehung passte uns beiden gut.
Und dann werde ich plötzlich von einem Vampir angegriffen und verwandelt. Der Sex war danach zwar noch besser, aber Max konnte sich gar nicht schnell genug verabschieden, als er die Wahrheit erfuhr. Ich habe ihm das Leben gerettet – verdammt, in den letzten zwölf Monaten habe ich eine ganze Menge Leben gerettet –, aber die Welt im Allgemeinen betrachtet mich eben als Blutsauger, als Monster.
Ich kann meiner Familie nicht die Wahrheit sagen, oder David, oder sonst einem Sterblichen außer den wenigen, die das Geheimnis kennen und hüten... dass übernatürliche Geschöpfe Seite an Seite mit ihnen zusammenleben. Deshalb habe ich meine Familie um die halbe Welt ziehen lassen. Ich hätte es nicht ertragen, das Entsetzen in ihren Augen zu sehen, falls sie je hinter mein Geheimnis gekommen wären. Deshalb bin ich froh, dass meine Nichte Trish da ist, um die sie sich kümmern müssen. Sie wird die Lücke füllen, wenn die Umstände mich zwingen, meine jetzige Existenz aufzugeben und weiterzuziehen.
Vielleicht habe ich Tracey unbewusst deshalb so leicht akzeptiert, weil sie auch eine Lücke füllen könnte, nämlich bei David. Eine frische Brise streicht über die Bucht. Die Boote draußen hissen die Segel, um sie einzufangen, schalten die Motoren aus und ziehen in gerader, sauberer Bahn aufs Meer hinaus. Ich wünschte, mein Weg wäre ebenso klar und gerade.
Ich hebe die rechte Hand. Meine Handfläche sieht so aus wie immer. Die Haut an meinem Handrücken ist so glatt und kalt wie Alabaster. Ich lasse die Hand wieder in den Schoß fallen. Vor drei Tagen war ich ein Stück wandelnde Holzkohle, heute ist keine Spur mehr davon zu sehen.
Ich schließe die Augen und lausche. Ich kann alles hören und spüren, was in meinem Körper vorgeht. Blut pulsiert, das Herz pumpt. Muskeln und Sehnen beugen und strecken sich auf Kommando. Nerven vibrieren vor Energie. Ich bin tot. Und doch habe ich mich noch nie so lebendig gefühlt.
Kapitel 23
Ich bin tief in diesen Gedanken versunken, als die Tür zum Büro aufgeht. Ich brauche mich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer da hereingekommen ist. Ihr Parfüm eilt ihr voraus. Wenn wir ab jetzt regelmäßig zusammenarbeiten sollen, wird David Tracey bitten müssen, es damit nicht so zu übertreiben. Schließlich hat er sie rekrutiert. Sie kommt schnurstracks durchs Büro zu mir auf die Terrasse und deutet auf den zweiten Liegestuhl. »Darf ich mich zu dir setzen?«
Ich rutsche herum, so dass ich windwärts sitze, und nicke. »Natürlich, gern.« Da bemerke ich, dass sie eine Einkaufstüte in der Hand hat. Sie setzt sich, öffnet die Tüte und holt zwei
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