Anna Strong Chronicles 06 - Gesetz der Nacht
gezeichnet, aber die Fältchen sind weicher, die Haut jugendlicher, die Augen strahlender, als ich sie in Erinnerung habe. Und ich spüre da etwas. Sie strahlt so eine Energie aus, mächtig und zudringlich. Sie wendet den Blick ab und zieht leicht die Schultern hoch. Sie weiß, dass ich sie mustere, und wünscht sich, sie wäre nicht gekommen. Sie erkennt gerade, dass sie einen Fehler gemacht hat.
Ich weiß, was sie empfindet. Ich weiß, was sie denkt. Das weiß ich, weil ich in ihren Geist schauen kann. Sie ist ein Vampir. Jemand hat sie verwandelt.
Kapitel 26
Wie? Wann?
Auf meine Fragen hin empfange ich nur Verwirrung. Mrs. Williams sieht mich mit panischem Blick an. Ich erkenne die Anzeichen. Erst vor einem Jahr habe ich die gleiche Verwirrung, die gleiche Panik durchgemacht, als Avery zum ersten Mal auf telepathischem Weg mit mir gesprochen hat. Sie ist noch nicht lange ein Vampir. Ich setze mich vor sie auf den Couchtisch, so dass sich unsere Knie berühren. Ich will, dass sie mich ansieht.
Wann hat Warren Sie verwandelt?
Sie schüttelt den Kopf, kann nicht begreifen, was hier geschieht. Ihr ist nicht klar, dass man erst lernen muss, seine Gedanken abzuschirmen. Natürlich hat ihr Mann ihr das nicht beigebracht. Sein Drang, alles unter Kontrolle zu haben, hätte das sicher verhindert.
Also hole ich mir die Informationen, die ich brauche. Die ganze Geschichte ist da. Er hat sie nach Ortiz’ Beerdigung verwandelt, als Warren noch schwach war und menschliches Blut brauchte. Er hat sie hinausgeschickt, damit sie ihm Wirte bringt, und ihr genaue Anweisungen gegeben, was sie sagen und was sie ihnen anbieten soll. Er hat seine Erfahrung als Polizist genutzt, um ihr zu erklären, nach wem sie Ausschau halten soll – Ausreißer, Landstreicher – und wie sie sie ansprechen muss, damit sie keine Angst bekommen. Den Wirten wurde Geld und Essen angeboten, mit Drogen versetzt, so dass sie sich hinterher an nichts erinnern konnten. Dann hat Mrs. Williams sie dorthin zurückgefahren, wo sie sie aufgelesen hatte.
Es war ganz leicht. Sie hatte keine Angst. Sie war stolz darauf, wie stark sie geworden war. Warren war auch stolz auf sie. Er hat ihr ein neues Leben versprochen. Er hat ihr die ganze Welt versprochen, wenn er und Anna erst alles so eingerichtet hätten, wie es sein sollte – sobald Anna endlich ihre Bestimmung akzeptieren würde.
Eine neue Welt, in der er König und seine Frau die Königin sein würden. Ich ziehe mich aus den wirren Gedanken und Emotionen in ihrem Geist zurück. Eine neue Welt?, frage ich in der Hoffnung, dass sie noch mehr für mich hat. Sie starrt mich wieder panisch an. Sie versteht nicht, warum sie mich hören kann. Mir geht auf, dass Williams ihr nicht nur verschwiegen hat, dass er ihre Gedanken lesen kann – er hat ihr auch nie gesagt, dass sie mit ihren Gedanken andere erreichen kann. Ein weiteres Mittel, sie strikt unter seiner Kontrolle zu halten. Er konnte seine Gedanken abschirmen, und sie hatte keine Ahnung, dass er die ihren las.
Clevere Manipulation. Typisch. Ich stehe auf und gehe ein Stück weg. Was soll ich jetzt tun? Was mache ich mit ihr?
Sie beobachtet mich. Da ich weiß, was sie von mir hält, kann sie nur die schiere Verzweiflung hierher geführt haben. Sie ist eine Vampirin, hat aber keine Ahnung, was das bedeutet oder wie sie für sich selbst sorgen kann. Williams hat sie schon vor Monaten verwandelt, ihr aber nicht einmal die einfachsten Überlebensregeln beigebracht. Er hat sicher damit gerechnet, dass er ja für sie da sein würde. Bestimmt hatte er vor, ihr Blutswirte zu bringen und sie in das vampirische Leben einzuführen. Nach seinen Vorstellungen, versteht sich. Was mache ich denn jetzt?
Als ich mich wieder setze, wähle ich einen Platz auf der anderen Seite des Raumes. Ich brauche ein bisschen Abstand. Sie hält den Kopf gesenkt und die Hände im Schoß verknotet. Ich erkenne, dass sie weint, als ich Tränen auf ihre Hände tropfen sehe. Sie rührt sich nicht und macht keine Anstalten, sie wegzuwischen. »Mrs. Williams?« Es dauert eine Weile, bis sie aufblickt. »Warum sind Sie zu mir gekommen?« Ihr Gesichtsausdruck verwandelt sich von Trauer zu Verzweiflung. Sie wischt sich mit dem Handrücken die Tränen vom Gesicht.
»Wohin könnte ich mich sonst wenden? Ortiz ist tot. Sie sind die einzige andere Vampirin, die Warren je erwähnt hat. Er wollte sich doch um mich kümmern. Er hat mir versprochen, sich um mich zu kümmern. Jetzt ist er weg, und ich
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