Anna Strong Chronicles 06 - Gesetz der Nacht
denken müssen. Grauen bohrt sich in meine Eingeweide wie Stacheldraht. Warum ist mir Underwood nicht schon längst eingefallen? Williams hätte niemals seinen eigenen Tod vorgetäuscht. Dazu hätte er keinen Grund gehabt. Genau wie Underwood keinen Grund mehr hatte, mit Williams zusammenzuarbeiten, sobald ich mich erst kooperationsbereit erklärt hatte, um meine Familie und meine Freunde zu schützen.
Himmel. Es ist sonnenklar. Williams ist tatsächlich tot, und Underwood hat ihn ermordet. Underwoods krankem Gehirn würde das nur logisch erscheinen. Underwood und Williams haben vielleicht kooperiert, um mich zur Mitarbeit zu zwingen, aber wozu sollte Underwood Williams noch brauchen, wenn sie mich erst hatten? Er hat erkannt, dass Williams und ich uns nicht leiden können. Vielleicht hatte er sogar vor, Williams zu töten, als eine Art Vertrauensbeweis.
Ich kann ihn beinahe hören: Schau, Anna, ich habe den Drachen erschlagen, der dir und den Deinen ein Jahr lang zugesetzt hat. Ich habe dich befreit von seiner Drängelei, seinen ständigen Einmischungen. Das ist mein Geschenk an dich. Underwood ist seit fünfhundert Jahren ein Vampir. Er muss viel mehr über die Auserwählten-Geschichte wissen als Williams. Vielleicht waren die beiden sich auch nicht einig, wie ich am besten indoktriniert werden sollte. Er wirkte nicht erfreut, als Williams meine Bedingungen so widerspruchslos angenommen hat – meine Kooperation im Austausch gegen Lances Sicherheit und die meiner Familie, meiner Freunde. Könnten sie sich deshalb zerstritten haben?
Vertraut Underwood meinem Wort so wenig, dass er beschlossen hat, auf eigene Faust nachzuverhandeln? O Gott.
Der Gedanke lässt mich nach dem Telefon auf dem Couchtisch hechten. Als Erstes rufe ich meine Familie in Frankreich an. Meine Nichte Trish geht dran, sie klingt freudig überrascht. Ja, versichert sie mir, alles ist in Ordnung. Meine Mutter pflückt gerade im Garten Kräuter fürs Abendessen, und mein Vater sitzt im Wohnzimmer und liest Zeitung. Ob ich mit ihnen sprechen möchte? Ich erkläre ihr, ich hätte nur kurz Hallo sagen wollen. Ehe ich auflege, verspreche ich ihr, bald wieder anzurufen, wenn ich mehr Zeit für ein Schwätzchen habe.
Als Nächster ist David dran. Seine schlaftrunkene Stimme erinnert mich daran, dass es erst kurz vor sieben ist. Warum ich ihn so früh anrufe? Im Hintergrund fragt eine ebenso schläfrige Frauenstimme, wer dran sei. Dann merke ich, dass ich in ihrer Stimme nicht direkt Schlaf höre. Als David heiser und ein wenig keuchend seine Frage wiederholt, warum ich anrufe, dämmert mir, dass ich die beiden nicht beim Schlafen gestört habe.
Ich nuschele eine Entschuldigung und eine dümmliche Erklärung von wegen einer Adresse, die ich im Büro schon finden werde, und lege auf. Meiner Familie geht es gut. David geht es gut. David geht es sogar ganz prächtig. Lance wird in ein paar Stunden auf dem Heimweg sein.
Wenn Underwood nicht vorhat, einen von ihnen als Druckmittel gegen mich zu benutzen, was dann?
Kapitel 25
Es ist kurz nach neun, als wieder jemand an der Haustür klingelt. Ich bin gerade auf dem Weg nach unten, nachdem ich mich endlich von der Couch aufgerafft habe, um zu duschen. Außerdem habe ich die Jogginghose und das T-Shirt, in denen ich schlafe, gegen die Jeans und das T-Shirt getauscht, in denen ich lebe, wenn ich wach bin. Wie üblich denke ich nicht daran, erst nachzusehen, wer draußen steht, ehe ich die Tür aufmache. Das bereue ich sofort. Mrs. Williams’ unerwarteter Anblick wirft mich völlig aus der Bahn. Sie erkennt den Schock in meiner Miene, während ihr eigenes Gesicht undurchdringlich wirkt. Nach kurzem Zögern fragt sie: »Darf ich hereinkommen?«
Ich nicke wie betäubt und trete beiseite. Was soll ich denn zu ihr sagen? Sie geht durchs Wohnzimmer und sinkt aufs Sofa. Ihr Blick schweift durch den Raum, taxierend, abwägend, eine Einschätzung meines Lebensstils. Ihre Miene bleibt distanziert. Selbst als sie spüren muss, dass ich sie ansehe, reagiert sie kaum. Sie wendet sich mir nur zu und begegnet meinem Blick. Dann bemerke ich etwas, subtile Veränderungen.
Sie ist etwa fünfundvierzig, schlank, attraktiv. Sie trägt Designer-Trauer – maßgefertigte schwarze Crêpe-de-Chine-Hose, anthrazitfarbene Bluse, taillierter schwarzer Blazer. Sie hatte schon immer etwas Adliges an sich, die Ausstrahlung eines Menschen, der es gewohnt ist, umsorgt und verwöhnt zu werden. Jetzt ist ihr Gesicht von Trauer
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