Anna Strong Chronicles 06 - Gesetz der Nacht
abgesehen von betroffener Neugier.
Harris weicht der Frage aus. »Mrs. Williams vermutet, dass Sie ihren Mann als Letzte lebend gesehen haben. Deshalb bin ich hier. Wann sind Sie nach San Diego zurückgekehrt?«
»Gestern. Gegen neun Uhr morgens.«
»Allein?«
»Nein. Ich bin mit meinem Freund Lance Turner nach Hause gefahren, und einem guten Bekannten, Daniel Frey.«
»Und die beiden können das bestätigen?«
»Ich gebe Ihnen gern die Telefonnummern.«
»Was haben Sie getan, nachdem Sie zu Hause angekommen sind?«
»Ich bin ins Büro gefahren. David war dort, und unsere neue Partnerin. Sie kennen sie. Tracey Banker.«
»Und waren Sie den ganzen Tag lang dort?«
»Bis gegen fünf. Dann bin ich nach Hause gegangen.« Ich hebe abwehrend eine Hand. »Und nein, ich habe niemanden, der bezeugen könnte, dass ich heute Nacht zu Hause war. Ich war allein.«
Harris schüttelt den Kopf. »Das spielt keine Rolle. Die Spurensicherung hat als Todeszeitpunkt gestern Vormittag bestimmt. Ich hätte gern diese Telefonnummern, wenn Sie so freundlich wären.« Spurensicherung? Ein verbrannter Vampir würde nichts als Asche hinterlassen. Eine stehengebliebene Armbanduhr vielleicht? Oder die Uhr im Armaturenbrett? Harris hat das Notizbuch wieder aufgeschlagen und den Stift in der Hand. Er sieht mich erwartungsvoll an. Ich greife nach meinem Handy, lasse mir die Nummern von Lance und Frey anzeigen und diktiere sie ihm. Harris notiert sich die Nummern, aber ich sehe an seinem Gesichtsausdruck, dass er das nur routinemäßig tut. Er betrachtet mich nicht als Verdächtige, ganz gleich, was Mrs. Williams ihm gegenüber angedeutet haben mag.
Und ich bin sicher, dass sie eine Menge zu sagen hatte.
Er geht zur Tür, hält inne und dreht sich wieder um. »Warren Williams mag seinen Posten verloren haben, aber er war ein guter Polizeichef und ein guter Polizist. Mrs. Williams glaubt nicht, dass ihr Mann Selbstmord begangen hat. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass Sie das auch nicht glauben. Ich weiß, dass er Sie als Freundin betrachtet hat. Also sage ich Ihnen, dass wir die Akte zu seinem Tod nicht schließen werden, ehe wir ganz sicher sind, so oder so. Falls Ihnen irgendetwas einfällt, das uns bei den Ermittlungen helfen könnte, hoffe ich, dass Sie uns anrufen.«
Ich schaue Harris nach, der aus dem Haus und zu einem wartenden Wagen geht. Meine Gedanken und Gefühle sind so durcheinander, dass ich beides kaum sortieren kann. Ich schließe die Tür, gehe wie ein Zombie zum Sofa und setze mich. So bleibe ich noch lange, nachdem Harris gegangen ist, den Kopf zurückgelehnt, die Beine ausgestreckt, zu schockiert, um mehr zu tun, als an die Decke zu starren.
Ich kann es einfach nicht fassen, dass Warren Williams nicht mehr ist. Ich habe mich ständig über ihn geärgert und warte immer noch darauf, dass eine gewisse Erleichterung meinen Schock überwindet. Aber sie kommt nicht. Was kommt, sind starke Zweifel.
Ist er wirklich tot? Oder ist das ein Trick? Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass Williams sich irgendein kompliziertes Ablenkungsmanöver ausgedacht hat, um einfach verschwinden zu können. Vielleicht hatte er seine hier aufgebaute sterbliche Existenz satt, seine sterbliche Ehefrau, und hat sich so einen Ausweg verschafft. Das tun Vampire gern, wenn sie ein »neues Leben« anfangen wollen.
Aber der Zeitpunkt ist ganz verkehrt.
Ich kann mir vorstellen, dass Williams seiner Karriere, sogar seiner Frau den Rücken kehrt, aber nicht mir. Seit ich ihn kenne, geht er mir mit meiner angeblichen Bestimmung auf die Nerven. Er hat unmissverständlich klargemacht, dass es nicht nur um mein Schicksal geht, sondern er auch seine Bestimmung darin sieht, mich zu formen und anzuleiten. Sogar seine Frau hat das gesagt, bei Ortiz’ Beerdigung. Williams hat seine Vision für die Zukunft offenbar mit ihr geteilt – meine Zukunft, unsere Zukunft. Auf gar keinen Fall würde er sich umbringen, ehe er das durchgezogen hat.
Was, wenn es kein Selbstmord war? Was, wenn da draußen noch jemand ist, der auf den richtigen Zeitpunkt wartet, mit mir Kontakt aufzunehmen? Was, wenn das alles zu einem großen Plan gehört, Williams und mich zu isolieren? Williams könnte sogar die idiotische Vorstellung gehabt haben, dass auch ich meinen Tod vortäuschen und mich ganz in seine Hände begeben würde. Egozentrisch genug wäre er.
Und das hört sich jedenfalls nach einem Plan an, dem Underwood zustimmen würde. An Underwood hätte ich viel früher
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