Anna Strong Chronicles 06 - Gesetz der Nacht
Euch beliebt.«
Über diesen Vorschlag hätte ich beinahe laut gelacht. Bei diesem Irren übernachten? Lieber schlafe ich... Dann geht mir auf, was er gerade gesagt hat. Ich schaue auf mein Handgelenk, wo meine Uhr sein sollte, die Rolex, die meine Familie mir zu Weihnachten geschenkt hat. Wieder flammen Frust und Wut in mir auf. Meine Uhr ist weg. Schlimm genug. Aber Schock und Verwirrung haben einen anderen Grund.
Wenn heute Samstag ist, dann ist der Jahrestag meiner Verwandlung schon vorbei. Ich mache im Geist kurz Inventur. Ich fühle mich wie immer. Ich spanne meine Muskeln. Nichts. Ich schaue an mir herab. Flügel sind mir nicht gewachsen, ich strahle oder leuchte auch nicht oder so. Mein Körper sieht ganz normal aus. Einen Moment lang bin ich so erleichtert, dass ich beinahe vergesse, wo ich bin und wie ich hierhergekommen bin. Ich werfe den Kopf in den Nacken und lache.
Zuria beobachtet mich mit verwundertem Stirnrunzeln. »Göttin? Geht es Euch gut?« Besser als gut. Es ist vorbei. Williams. Julian Underwood. Ihre fixe Idee von wegen Bestimmung. Die Euphorie über meine Freiheit hält nur so lange an, bis die Vampirin sich in meine Gedanken drängt. Es ist nicht vorbei. Noch nicht. Lance dürfen wir nicht vergessen.
Kapitel 31
Trotz Zurias Einwänden bringe ich ihn dazu, mich zum Flughafen zu fahren. Mir ist keineswegs entgangen, dass ich kein Geld, keinen Pass und nicht einmal saubere Kleidung zum Wechseln habe. Ich brauche Zeit, um mir zu überlegen, was zum Teufel ich jetzt tun soll. Als ich aus Zurias zerbeultem Citroën steige, reckt er sich nach hinten und nimmt eine Jacke vom Rücksitz. Meine Lederjacke. »Der junge Mann hat das für Euch hiergelassen«, sagt er.
Ich nehme sie und frage mich, wann Lance Zeit hatte, daran zu denken, eine Jacke für mich mitzunehmen. War das, ehe er mich betäubt hat, oder als er mich für Underwood und seinen Haufen Irrer nackt ausgezogen hat? Zurias Widerstreben, einfach wegzufahren, drückt sich in trommelnden Fingerspitzen auf dem Lenkrad und einer traurigen Miene aus. Er wirkt den Tränen nahe. Ich muss mich schließlich abwenden, damit er endlich den Gang einlegt.
»Kehrt bald zu uns zurück, Göttin«, fleht er. Na klar. Ganz bestimmt. Ich gehe auf das Terminal zu, und endlich höre ich die Kupplung leise quietschen, und der Wagen fährt röhrend los. Die stinkende Wolke von verbranntem Motoröl zwickt mich in die Nase und lässt meine Augen tränen.
Ich schlüpfe in die Jacke und bereue es, sobald sie auf meinen Schultern sitzt. Lances Geruch steigt davon auf. Er muss sie getragen haben. Am liebsten würde ich sie ausziehen und wegwerfen, aber verdammt, ich mag diese Jacke. Ich werde sie reinigen lassen, sobald ich wieder zu Hause bin. Das Gebäude, vor dem ich stehe, ist niedrig und zweckmäßig schmucklos. Still. Ich kann drinnen niemanden sehen. Der Flughafen ist nicht besonders groß. Vor dem Terminal ist ein kleiner Park, und ich setze mich im Schneidersitz ins Gras, um meine Optionen durchzudenken. Die offensichtlichste Möglichkeit wäre, meine Eltern anzurufen. Der Nachteil daran ist ebenso offensichtlich. Wie soll ich ihnen erklären, dass ich plötzlich in Frankreich bin, ohne Geld, ohne Pass und unangekündigt? Scheiße.
Falls es irgendwo in der Gegend ein amerikanisches Konsulat gibt, könnten die mir mit Geld und einem NotfallVisum aushelfen, damit ich hier wegkomme. Aber dazu bräuchte ich eine glaubhafte Geschichte. Was soll ich denen erzählen? Dass ich überfallen und ausgeraubt wurde? Das könnte erklären, warum ich keine Brieftasche und keinen Reisepass habe. Aber wenn sie mich fragen, wo ich hier abgestiegen bin? Und ob ich den Diebstahl bei der Polizei angezeigt habe? Lance. Das ist alles nur deine Schuld. Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht? Wie bist du eigentlich hier weggekommen?
Wenn der Flughafen nachts geschlossen ist, hattest du vielleicht ein Auto in der Nähe versteckt? Einen Moment lang versinke ich in Niedergeschlagenheit. Ich ertrinke in einem See aus Kummer und Verlust. Der Moment vergeht rasch. Zorn verschluckt ihn. Keine Zeit für vage Ängste. Frustriert schiebe ich die Hände in die Jackentaschen und erstarre, als meine Finger auf... Aus der rechten Tasche hole ich meine Armbanduhr, aus der linken einen Umschlag. Ich lege mir die Rolex ums Handgelenk und schließe das Armband, ehe ich mir den Umschlag ansehe. Lances Handschrift.
Für Anna. Ich will die Gefühle nicht, die über mir zusammenschlagen.
Weitere Kostenlose Bücher