Anna Strong Chronicles 06 - Gesetz der Nacht
Sehnsucht, Traurigkeit. Ich will nur Wut empfinden. Der Mann, der behauptet hat, mich zu lieben, hat mich Underwood ausgeliefert und dann zugesehen, während Underwood mich vergewaltigen wollte. Welche Entschuldigung könnte mir je erlauben, einen solchen Verrat zu verzeihen?
Etwas rutscht in dem Umschlag zur Seite. Neugier bringt mich dazu, ihn doch zu öffnen. Ich hole zwei gefaltete Blätter Papier heraus. Als ich sie ausbreite, fällt ein kleiner Schlüssel ins Gras. Ich ignoriere ihn vorerst, denn mein Blick wird beinahe widerwillig von der vertrauten Handschrift angezogen.
Liebe Anna,
wenn Du das hier liest, ist etwas schiefgegangen. Julian ist sehr wahrscheinlich tot. Falls ich noch lebe, weiß ich, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis auch ich tot sein werde. Verrat ist das Einzige, das Du niemals verzeihen kannst.
Zu meiner Verteidigung kann ich nur sagen, dass Julian mir versprochen hat, Dir würde nichts geschehen. Die Zeremonie sollte die Tür öffnen. Du solltest der Kanal sein, durch den Julian große Macht zufließt. Das müsste nur ein einziges Mal geschehen. Ich habe Dich betäubt, damit du Dich später an nichts erinnern würdest. Danach wären Du und ich frei gewesen, unser eigenes Leben zu führen. Zusammen.
Leere Worte.
Lance Turner ist nicht mehr. Meine Angelegenheiten sind geregelt. Wenn Du dies liest, haben meine Anwälte Adele bereits über meinen Tod im Ausland in Kenntnis gesetzt. Sie wird das Anwesen in Palm Springs erben. Ich bitte Dich nur darum, sie in Frieden zu lassen. Sie weiß nichts über das, was geschehen ist. Das Anwesen in Malibu gehört Dir, tu damit, was Du willst.
Und was mich angeht – wenn Du mich verfolgen musst, um Dich zu rächen, kann ich das verstehen. Du fühlst Dich verraten. Du bist so stark. Du kannst kaum verstehen, dass nicht alle von uns so sind. Ich war schon immer schwach. Ich dachte, nachdem Julian mich gefoltert hatte, würdest Du meine Schwäche erkennen, und unsere Beziehung würde sich verändern. Ich dachte, Du würdest mich mit anderen Augen sehen und Dich fragen, was für ein Mann sich auspeitschen lässt wie ein Sklave. Das war Julians Strafe dafür, dass ich ihm erklärt habe, ich wolle bei seinem Plan nicht mehr mitmachen. Er hat das getan, weil er es konnte und weil ich es zugelassen habe. Und weil er glaubte, Du würdest mich dann verlassen.
Ich hätte unsere Beziehung selbst beenden sollen. Aber nicht einmal dazu hatte ich den Mumm. Als Du trotz allem bei mir geblieben bist, habe ich allmählich geglaubt, was Julian mir seit dem Tag erzählt hat, als wir uns begegnet sind: Dass es Dir und mir bestimmt sei, für immer zusammenzubleiben, sobald sich die Prophezeiung erfüllt hat. Eine Nacht im Tausch für ein unendlich langes Leben. Da habe ich aufgehört, mich gegen ihn zu wehren. Deshalb war ich einverstanden, ihm zu helfen.
Noch mehr leere Worte, aber ich wollte, dass Du das weißt.
Ich habe Dich wirklich geliebt, Anna. Ich werde Dich immer lieben.
Lance
Meine Hand knüllt den Brief zu einer Kugel zusammen. Liebe. Mein einziger Trost ist, dass ich dem Dreckskerl nie gesagt habe, dass ich ihn auch liebe. Ein kleiner, bedeutungsloser Triumph, aber dennoch befriedigend. Ich suche nach dem Schlüssel, der aus dem Umschlag gefallen ist, als ich den Brief herausgezogen habe, und pflücke ihn aus dem Gras. Es ist ein schmaler Messingschlüssel mit großen Ziffern auf dem Schlüsselkopf. Ein Schließfachschlüssel.
Zum ersten Mal, seit ich in dieser Höhle aufgewacht bin, keimt Hoffnung in mir auf. Wenn dieser Schlüssel das ist, was ich denke, dann hat Lance sich vielleicht einen schnellen Tod verdient, statt langsam und qualvoll zu sterben.
Um halb fünf trudeln die ersten Leute am Flughafen ein. Uniformierte Piloten, Stewardessen und Sicherheitsleute, das weniger einheitlich gekleidete Personal der Checkin und Boardingschalter, Techniker und Wartungs- und Reinigungspersonal in Overalls. Pünktlich um halb sechs werden die Türen für eine kleine Gruppe Fluggäste geöffnet, die genau wie ich ihre Reise antreten wollen.
In meinem stockenden Französisch frage ich einen der Sicherheitsbeamten nach den casiers. Er deutet auf einen Gang am Ende der Reihe von Ticket-Schaltern. Die Nummer auf dem Schlüssel lautet 118. Als ich das Schließfach gefunden habe und aufsperre, bin ich fast berauscht vor Erleichterung. Geldbörse. Kreditkarten. Reisepass.
Und noch ein Briefchen. Dein Jet steht in der borne privée. Geh in die VIP-Lounge und
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