Anna Strong Chronicles 06 - Gesetz der Nacht
tatsächlich, er hätte nichts Schlechtes getan. Und jetzt? »Wie weit ist es zum nächsten Flughafen?«
Diese Frage erlaubt Zuria zumindest, wie ein rationaler, erwachsener Mensch zu antworten. »Nicht weit. Biarritz hat einen Flughafen.«
Der Eindruck von Vernunft währt nur so lange, wie seine Antwort dauert. Dann verdüstert sich seine Miene. »Ihr wollt uns verlassen? Was sollen wir nur tun?«
Ich wüsste so viele Antworten auf diese Frage – und die meisten drehen sich um gewisse Körperteile. Stattdessen nehme ich mir einen Moment Zeit, um meine Worte sorgfältig zu wählen. »Als Erstes bringt ihr mich zum Flughafen. Dann geht ihr nach Hause und vergesst, was hier geschehen ist. Der Mann, den ihr Maju nanntet, war ein falscher Prophet. Bleibt wachsam. Wenn die rechte Zeit gekommen ist, kehre ich mit meinem wahren Gefährten zurück. Habt ihr verstanden?«
Hoffnung leuchtet aus Zurias Augen. »Ihr werdet uns wegen Maju nicht bestrafen?« Das wird hoffentlich die Justiz übernehmen, sobald jemand die Frauenleiche in der Höhle entdeckt. Und was Underwood angeht... Wenn sie den Zustand seiner völlig ausgedörrten Leiche zu erklären versuchen, wird man sie nicht wegen Mordes, sondern wegen Geisteskrankheit wegsperren.
Ich schüttele den Kopf. »Nein. Der Mann, der sich als Maju ausgegeben hat, war ein mächtiger Hexer. Aber ihr müsst meiner Anweisung gehorchen. Keine Zeremonien mehr. Lebt euer Leben still und in Frieden mit der Welt. Wartet auf meine Rückkehr.«
Was für ein Müll. Ich rechne fest damit, dass jemand aus der Gruppe meine Worte in Frage stellen wird. Stattdessen reagieren sie erleichtert. Sie sammeln ihre persönlichen Dinge ein, die auf dem Höhlenboden liegen, und bereiten sich darauf vor, nach Hause zu gehen. Sie unterhalten sich so ungezwungen, als kämen sie gerade von einem Kirchenpicknick statt von einem uralten Ritual, bei dem ihre Gottheit Maju und sogar eines ihrer Gemeindemitglieder von einem Vampir getötet wurden.
Ich blicke mich erstaunt um. Unglaublich. Einfach unglaublich. Ich war noch nie in Biarritz.
Als wir vor die Höhle treten, schauen wir auf einen Strand hinab. Eins fünfzig hohe Wellen küssen eine schimmernde Küstenlinie. Der Abend ist mondlos, doch ein halbes Dutzend Surfer nutzen die ideal geformten Brecher. Bei diesem Anblick durchfährt mich plötzliches Heimweh nach meinem Strandhaus. Eine breite Strandpromenade ist von Leuten gesäumt, die den Surfern bei ihren Kunststücken zuschauen, und ich erinnere mich an ein weiteres Häppchen Information aus dem Internet: Biarritz liegt am Atlantik und ist berühmt für seine Surfstrände.
Cafés und Bistros glänzen mit funkelnden Lichterketten. Musik treibt zu uns herauf. All das sehe ich von unserem Aussichtspunkt gegenüber einem Leuchtturm. Auf einem Felsen in der Nähe thront eine Statue. Zuria folgt meinem Blick. »Das seid Ihr, Mari«, haucht er ehrfürchtig.
Irgendwie glaube ich, dass nur sein irregeleiteter Verstand darin diese Mari sieht. Wahrscheinlich stellt die Statue eine wesentlich bekanntere schützende Figur dar. Wissensreste aus der katholischen Schule regen sich in meiner Erinnerung. Die Jungfrau Maria.
Sobald wir die Höhle verlassen haben, zerstreut sich die Gruppe. Die einzelnen Mitglieder gehen mit gesenktem Kopf und einem gemurmelten Bittgebet an mir vorbei. Manche versuchen sogar, meine Hand zu ergreifen. Ich trete zurück, außer Reichweite. Als nur noch Zuria und ich übrig sind, sehe ich mich um. Offenbar stehen wir auf einem Pfad, einem Spazierweg, der von der Küste wegführt. Wir müssen ziemlich am Anfang dieses Weges sein, denn ich höre schon die ersten Autos anspringen.
»Wie weit ist es zum Flughafen?«
Zuria bedeutet mir, ihm zu folgen. Ich gehe neben ihm her und frage noch einmal: »Wie weit ist es zum Flughafen?«
Er will mir anscheinend nicht antworten. »Es wäre nicht klug von dir, mit mir zu spielen, Zuria. Ich will nach Hause. Ich frage dich jetzt zum letzten Mal so freundlich. Wie weit ist es zum Flughafen?«
Er wischt sich mit der Hand über den Mund. »Nicht weit, Göttin. Aber das ist nicht das Problem.«
Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Ach so? Was ist denn dann das Problem?«
Er sieht auf seine Armbanduhr. »Es ist fast zwei Uhr morgens. Der Flughafen öffnet samstags erst um halb sechs. Ich würde meine Pflichten schmählich vernachlässigen, wenn ich Euch nicht meine Gastfreundschaft anbieten würde. Ich bitte Euch, bleibt bei mir zu Hause, solange es
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