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Anna und Anna (German Edition)

Anna und Anna (German Edition)

Titel: Anna und Anna (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Inden
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Briefen.
    Heute war ich bei Mary-Lou. Sie ist endlich zurück und ich bin sofort zu ihr rübergeradelt. Ihre Eltern haben ein riesiges Haus. Es liegt direkt am Park, aber eigentlich könnte man auch glauben, es liege im Park und der Park gehöre zum Haus dazu, so riesig ist es. Und so beeindruckend.
    Eine Stadtvilla ist das, sagt Oma. Jugendstil.
    Ziemlich fein, finde ich. Wenn das Jugendstil ist, dann gefällt er mir.
    Mary-Lou hat die Tür aufgemacht. Barfuß war sie. Mit mintgrün lackierten Zehennägeln und braunen Waden. Ihre Beine sind anders als meine, runder, weicher. Ihre Arme auch. Ich finde, Mary-Lou sieht einfach mehr aus wie ein Mädchen als ich. Sie ist mir auch fast zwei Körbchengrößen voraus.
    »Süße«, sagt Mary-Lou und gibt mir Küsschen zur Begrüßung. Eins auf die linke Wange und eins auf die rechte. Das ist neu. Wenn man sich zwei Wochen nicht sieht, kann so was schon mal passieren, denke ich. Und bin dann ganz erleichtert, dass Mary-Lou sich in der Küche ein paar Beutel Lakritzschnecken und Weingummis für uns schnappt. Das hat sie nämlich vor ihrem Urlaub auch immer so gemacht.
    Wir gehen in ihr Zimmer (riesig!) und werfen uns auf ihr Bett. Sie mit den Füßen am Fußende, ich mit den Füßen zum Kopfende hin. Zwischen uns die Weingummis. Wir teilen gerecht, sie kriegt die roten und ich die gelben. Dann soll ich erzählen. Ich bekomme es nicht sehr gut hin, aber Mary-Lou scheint trotzdem zu verstehen, was passiert ist.
    »Und?«, fragt Mary-Lou am Ende und stupst mich mit einem Zeh an. »Warum hast du ihn nicht geküsst?«
    Das fragt sie so, als wäre es ganz selbstverständlich, dass man das tut, und als müsste ich wissen, wie man das macht. Küssen.
    Mary-Lou weiß genau, wie es geht. Sie hat schon den schönen Torben geküsst, den aus der neunten. Und Matthias aus unserer Klasse. Und an der Riviera irgendeinen Diplomatensohn. »Wenn man den Bogen erst mal raushat«, sagt sie, »ist es ganz einfach. Wenn beide nicht wissen, was sie tun, ist es natürlich schwieriger.«
    »Erkläre es mir«, verlange ich. »Dann traue ich mich vielleicht beim nächsten Mal. Wenn es denn eines gibt.« Ich sage ihr nicht, dass es mir in jener Nacht gar nicht eingefallen ist, Jan zu küssen. Ich kann ihr nicht mal sagen, wie überwältigt und verwirrt ich war. Okay, bin.
    »Hm«, macht Mary-Lou. Aber es ist kein abwehrendes Hm, sondern mehr ein nachdenkliches. Sie greift in die Weingummitüte. »Lass mal sehen«, sagt sie kauend. »Beim ersten Mal ist es fast das größte Problem, ihm klarzumachen, dass du geküsst werden willst. Du musst ihn also entweder selbst küssen oder ihm ein Zeichen geben.«
    »Das klingt kompliziert«, sage ich beunruhigt.
    »Alles eine Sache der Erfahrung«, sagt Mary-Lou achselzuckend.
    Erstaunlicherweise kann sie so etwas sagen, ohne eingebildet zu klingen.
    »Am besten rückst du ganz nah an ihn heran. Viel näher als normal, so mit Körperkontakt. Und schaust ihn an. Schau auf seinen Mund. Wenn du dann ein bisschen den Kopf schief legst, bist du in der optimalen Position, um geküsst zu werden.«
    Ich bin beeindruckt. »Okay«, sage ich. »Nah ranrücken. Kopf schief legen. Und dann?«
    Mary-Lou greift sich drei Weingummis auf einmal. »Na, wenn er es dann immer noch nicht kapiert, küsst du ihn einfach. Ist doch klar.«
    »Ja, aber wie?« Ich kann nicht fassen, dass sie denkt, jetzt aufhören zu können.
    Mary-Lou schluckt Weingummis hinunter. »Du legst deine Lippen auf seine, ganz normal. So.« Sie richtet sich auf, nimmt meinen Kopf in beide Hände und drückt mir einen festen Kuss auf die Lippen. Er schmeckt nach Kirsche.
    Ich blinzele sie an. »Das ist doch noch nicht alles!«
    Sie lässt mich los und fällt wieder zurück in ihre Kissen. »Nein, aber jetzt hat er kapiert, was Sache ist. Jetzt könnt ihr ernst machen. Vielleicht erst mal nur mit geöffneten Lippen, ohne Zunge.«
    »Und das ist schön?«, frage ich.
    Mary-Lou seufzt tief auf. »Du hast ja keine Ahnung.«
    Da hat sie leider recht.
     

     
    Lieber Jan,
     
    was bin ich froh, dass du auch diesen Brief niemals lesen wirst. Das wäre einfach zu peinlich!
    Eigentlich tat es gut, mit Mary-Lou zu reden. Endlich von dir erzählen zu können. Ich fühle mich um circa zehn Pfund leichter! Vielleicht sogar um zwanzig. Aber jetzt denke ich ständig darüber nach, wie es wäre, dich zu küssen. Ob ich dich hätte küssen sollen. Und ob ich wohl noch einmal die Chance dazu kriege. Oder die Gelegenheit verpasst

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