Anna und Anna (German Edition)
ihre Knie und Ellenbogen fast berührten. Sie sahen geradeaus, auf die kleinen Wellen mit den weißen Schaumkronen, die Juliet die Zweite hinter sich herzog, auf die Enten, die mit ihren Küken in unserem Fahrwasser schaukelten, und auf all die Menschen, die auf dem Wasser, am Ufer und auf den vielen kleinen Brücken die Frühlingssonne genossen. Nur einander an sahen sie nicht.
Jetzt passiert es also, dachte ich.
Ich schwöre, ich konnte sehen, wie sich etwas zwischen ihnen veränderte. Und wie sie das sprachlos machte.
Als wir anlegten, Stunden später, gingen nicht die Anna und der Jan von Bord, die sie heute Morgen noch gewesen waren. Und das machte mich ein bisschen sentimental.
Ach nein, du mein liebes linkes Bein,
dass du auch das verpasst hast!
An unserem letzten Abend in Amsterdam waren wir tanzen. Ja, ganz recht, ich sage: wir. Denn auch ich habe getanzt. Einen Walzer. Es war der schönste Walzer meines Lebens.
Wir saßen unter süß duftenden Linden und bunt leuchtenden Lichterketten, lauschten drei Straßenmusikanten und genossen das Leben. Ich zumindest tat das.
In diesem Moment sagt doch mein Henri zu mir: »Wie ist es, Annabelle, wollen wir ein Tänzchen wagen?«
Mir blieb fast das Herz stehen.
Vor Freude, weil er mich gefragt hatte.
Und vor Trauer, weil es doch nicht geht.
Dachte ich. Aber Henri hatte sich das ganz anders gedacht.
»Anna, schöne Anna«, sagte er und sah mir tief in die Augen, »wer hat mit dir in Paris getanzt, bis sie die Stühle auf die Tische stellten? Und wer hat mit dir noch auf der Straße getanzt zu Musik, die nur wir beide hörten?«
Das war er. Oh, und wie er das war! Er war ein wundervoller Tänzer, mein Henri.
Die Kinder machen große Augen, während er erzählt. Helen lehnt sich aufseufzend an James’ Schulter und James legt seine bärtige Wange auf ihren Scheitel. Für sie klingen Henris Erzählungen wildromantisch. In mir wecken sie bittersüße Erinnerungen.
Wage ich es, neue zu schaffen?
An Henris Arm bahne ich mir einen Weg zu einem Stück glatt gepflastertem Bürgersteig und in Henris Armen folge ich langsam den Walzerklängen. Damals war ich jung, so jung, dass ich das Leben in mir spüren konnte. Jetzt bin ich alt. Aber glücklich bin ich.
Der Himmel dunkelt langsam ein, doch ich merke es nicht. Ich sehe nur Henri.
Schweigend gehen wir später zurück zum Hotel.
Helen und James schlendern ineinandergeschmiegt voran. Henri und ich wandern hinterher. In einiger Entfernung folgen uns Anna und Jan. Nur weil ich mich nach ihnen umdrehe, sehe ich es: Jan greift nach Annas Hand.
Zögernd tut er es. Und zögernd lässt sie ihn. Als sie weitergehen, halten beide den Blick auf ihre verschränkten Finger geheftet. So als könnten sie einfach nicht fassen, was sie da tun, was da passiert.
Mir geht es genauso. Ich drehe mich schnell wieder um. Habe Herzklopfen. Feuchte Augen. Und ein Lächeln auf den Lippen. Das hier ist ihr Moment!
Ich glaube zu wissen, wie sich meine Anna jetzt fühlt. Und ich denke, daran wird sie sich erinnern: in jener Nacht Hand in Hand mit ihrem Jan durch Amsterdams Straßen gelaufen zu sein.
Ich jedenfalls werde es nie vergessen.
Liebe Mary-Lou,
wo bist du, wenn ich dich brauche?
Sitzt irgendwo an der Riviera und lässt dir die Sonne auf den Bauch scheinen.
Wir sind zurück aus Amsterdam. Und ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß eigentlich auch nicht, warum ich dir diesen Brief schreibe. Bis der dich erreicht, bin ich wahrscheinlich durchgedreht.
Ich wollte dich anrufen. Drei Mal hatte ich schon den Hörer in der Hand, zwei Mal hatte ich schon deine Nummer gewählt, aber ich habe immer wieder aufgelegt. Nicht weil meine Mutter sich wegen der Telefonrechnung aufgeregt hätte. Also sie hätte. Sie hätte »Ins Handynetz!« gerufen oder »Nach Italien!« oder »Bist du des Wahnsinns?«. Aber das war nicht der Grund. Sondern dass ich nicht weiß, wie ich das in Worte fassen soll, was passiert ist. Und was das mit mir macht. Deswegen rede ich auch nicht mit Oma.
Ich befürchte allerdings, demnächst werde ich einfach platzen. Dann sprudelt es nur so aus mir heraus, ganz wirr und ungeordnet! Und wer zufällig neben mir steht, kriegt alles zu hören. Über Amsterdam. Die Grachten. Oma und Henri. Und Jan. Vor allem Jan. Immer wieder Jan.
Ich hätte gern, dass du dieser Jemand bist. Komm bitte bald nach Hause!
Ann
Mein liebes linkes Bein.
Jetzt ist es schlimmer als
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