Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
vergessen und will davon nichts mehr wissen. Und ich habe heute schon genug erzählt.“
„Nichts da! Keine Ausreden! Du weißt es alles nach wie vor. Ich höre!“ Sie setzte sich auf einen von Schartas Ringen und bohrte ihn mit ihrem fordernden Blick.
Er setzte sich an die Wand rechts vom Eingang, streckte die müden Beine aus und sagte resigniert: „Gut, gib mir eine Minute, ich habe es gleich.“ Dann schloss er die Augen und atmete tief ein und aus. „Also gut“, sagte er, als er wieder aufblickte. „Es geht los. Eines Abends stand ich vor dem Alten Haus. Frag mich nicht, warum. Irgendetwas hatte mich wohl dahin gezogen. Die Tür war nur angelehnt. Die zwei Holzbalken, die sonst über Kreuz dort fest genagelt waren, lagen daneben im hohen Gestrüpp. Ich zog an der Klinke und die Tür ging mit einem lauten, lang gezogenen Quietschen auf und schnappte sofort wieder zu, als ich drin war. Ich stand plötzlich im stockdunklen Flur. Die alte, nach Moder stinkende Luft stieg mir in die Nase. Als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, sah ich, dass der Boden von einer gleichmäßigen Schicht Dreck bedeckt war. Die Wände und die Decke waren voll mit Spinnennetzen und Staubfäden. Dicke Spinnen liefen in ihren riesigen Fangwerken und saugten die zahlreiche Opfer aus: Motten, Fliegen, Käfer, alles war dabei. Ein gutes Dutzend Kadaver von kleinen Vögeln und Nagetieren in allen Stadien der Verwesung lagen darunter. Bei dem Bild lief mir ein kalter Schauder über den Rücken.
Ich wollte zum Kaminzimmer. Also marschierte ich den Flur entlang und machte eine Tür auf, die ich für die Richtige hielt. Im kahlen, dunklen Raum hingen etwa Dutzend Fledermäuse an der Decke. Sie flatterten auf, kreisten um mich, näherten sich immer dichter an meinen Kopf und streiften mir das Gesicht mit ihren kühlen Flügeln. Mir war, als ob sie mich angreifen wollten und nur nach einer passenden Stelle zum Reinbeißen suchten. Ich wirbelte mit den Händen wie eine Mühle, schrie sie an und stampfte, was das Zeug hielt, mit den Füßen. Sie ließen von mir ab. Ich stürmte hinaus, schlug die Tür zu und rannte weiter. Dann fiel mir ein, dass das Kaminzimmer am Ende des Flures sein müsste. Ich lief hin, stieß die Tür auf, kam rein und guckte mich um.
Spärliches Licht fiel durch die kaputten Scheiben in den hohen Fenstern. An den Bänken standen ein paar angeknackste tönerne Übertöpfe. Unten am Boden gab es jede Menge Scherben, die in der dicken Schicht Dreck und Unrat dalagen. Der Kamin zu meiner Rechten kam mir wie offenes Maul eines toten Wals vor. Gähnende Schwärze blickte mir aus seinem Schlot entgegen. Weiter in der Ecke stanken die Überreste von irgendwelchem Kleintier: die filzigen Fetzen vom Fell, der schmale Schädel, die faulenden Innereien und die Knochen, die vor dem Hintergrund mir recht hell vorkamen.
Kalt war es wie im Keller. Außer Staub und Gestank hing in der Luft etwas vom Leiden, Gewalt, Qualen und Tod. Mein Magen verknotete sich. Ich drehte mich um und wollte nur davon rennen, aber …“ Seine Stimme versagte. Er schnappte nach Luft, hustete ausgiebig und lehnte sich erschöpft wieder an die Wand.
„Na los, du Feigling!“, rief Anna ungeduldig. „Das kann ja nicht so schwer sein.“
„Gleich“, sagte er, seine Stimme rau. Er atmete tief ein und aus und schwieg, die Augen geschlossen.
„Schläfst du noch oder sprichst du schon? Ich höre ja bloß nichts.“
„Kinder! Seid lieb zueinander“, zischte die Schlange. „Verschwendet eure Kräfte nicht auf so etwas. Gekämpft wird woanders.“
„Also stand ich zwischen all dem Unfug und wollte nichts wie los und dann …, wie soll ich es sagen …“, Ian zog eine unbeholfene Miene, „ich hörte plötzlich aufgeregte Frauenstimmen. Es war aber keiner da. Ich drehte mich um, zu sehen, ob es nicht von außerhalb kam. Aber nein. Es war im Haus, in diesem Zimmer, da wo ich stand. Ich lauschte etwas länger und plötzlich leuchtete es mir ein: Ich hörte wieder etwas, was keine Ahnung woher kam. Es waren eindeutig zwei Frauenstimmen: eine Ältere und eine Jüngere, die sich mit ihr stritt. Bald kamen auch die Bilder dazu. Die ältere Frau hatte weiße Haare und trug ein langes, weißes Gewand. Vor ihr stand eine kleine Frau in Schwarz und schrie: ‚Hol ihn her! Ich will ihn haben!‘
Die Ältere sagte: ‘Kommt nicht in Frage. Es bleibt alles, wie es ist.‘
Die kleine Frau ärgerte sich sichtlich. Ihr Gesicht, das sonst als klassisch
Weitere Kostenlose Bücher