Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
zog eine unentschlossene Miene, zuckte die rechte Schulter. „Ich dachte, es ergab einfach keinen Sinn. Ich konnte mir das alles nicht erklären. Also beschloss ich, es wäre besser nach vorn zu gucken, an die Zukunft zu denken, erwachsen zu werden, wie die Alte es mir jeden Tag predigte. Und nach einiger Zeit war mir, dass all diese Dinge nicht mir passiert waren, dass all diese Ereignisse mit mir nichts zu tun hatten.“
Die junge Frau strich ihm leicht über die Locken und sagte leise: „Klar, wenn man fast jeden Tag eine Hirnwäsche verpasst bekommt …Es ist, als wenn einem tagein tagaus erzählt wird, man sei blöd. Dann wird man es auch mit der Zeit.“
„Danke, sehr einfühlsam“, lächelte er.
„Ist aber wahr.“
Plötzlich wurde der Gögling wach. Er schälte sich aus seinem Kokon, guckte hastig um sich und schlug einige Male mit seinen großen Ohren.
Anna wich zurück.
Ian strich ihm beruhigend über den Rücken: „Ist ja gut, alles ist gut, ich habe nur etwas erzählt.“
Er schien wieder beruhigt, setzte sich auf Ians linke Schulter, faltete die Ohren um sich wie eine Decke und lehnte sich mit dem knochigen Rücken an seine Schläfe. Ein paar Sekunden später konnte man sein leises Schnarchen wieder hören.
Der junge Mann lächelte entschuldigend: „Er muss viel schlafen.“
„Wie ging es mit deinem Freund Ernst weiter?“, fragte Scharta. Sie musterte den schlafenden Gögling aufmerksam: die leicht hervorstechenden Knochen an seinem Eierkopf, der sich unter der grauen Haut abzeichnete, seine überdimensionierten Füße, die an Ians Brust und Rücken herunterhingen.
Er fing ihren Blick auf.
„Also was war das mit dem Ernst?“, fragte sie wieder.
Er zuckte die freie Schulter: „Nichts.“
„Welche Art von Nichts?“
„Ab irgendwann meldete er sich nicht mehr“, sagte Ian und blickte traurig. „Der Markt war auch vorbei.“
„Und ab wann war es?“
Er blickte zu Boden und schwieg.
„Erzähl“, forderte Anna. „Aber alles. Wenn du schon dabei bist.“
Er seufzte verzweifelt. „Gut. Dann sind wir damit durch. Eines Tages, als ich ihm wieder mal berichtet hatte, wie blöd ich meinen Job fand, wie dämlich mein Chef wieder mal zu mir gewesen war, obwohl ich alles richtig und noch vor der vorgegebenen Zeit erledigt hatte, sagte Ernst so etwas wie: ‚Hast du nicht den Eindruck, dass es besser wäre aufzuhören, dich mit den Dingen zu beschäftigen, die für dich keinen Sinn ergeben und endlich anzufangen, dich um dein eigentliches Leben zu kümmern?‘ Ich wollte wissen, wie er es meinte. Und er sagte: ‚Was nutzen dir deine verzweifelten Versuche, dich in ein breitgelatschtes Muster hinein zu pressen? Du hast nie in eine allgemeingültige, vorgefertigte Formel gepasst. Weshalb also weiter daran arbeiten, dich zurecht zu stutzen, damit es doch noch funktioniert? Selbst wenn es dir gelingt, wird es nicht lange dauern, bis du es hinschmeißen wollen wirst. Wäre es nicht besser einzusehen, wer du eigentlich bist und anfangen, deinen Weg zu gehen? Nicht nur dir ginge dann wesentlich besser.“
„Und was hast du dazu gesagt?“, fragte Anna aufgeregt.
„Ich sagte, dass es ihn nichts anginge.“
„Aber warum?“ Sie machte große Augen.
Er zuckte die Achsel. „Es war mir zu abstrakt, ich habe nicht verstanden, was er damit meinte.“
„Und wie hatte er darauf reagiert?“ Scharta musterte ihn eindringlich.
„Er sah mich länger, mit so einem besonderen Blick an und sagte, es wäre in Ordnung, das wäre ja meine Entscheidung.“
„Und dann?“ Annas erstaunte Blick heftete sich an sein müdes Gesicht.
„Dann ging er“, seufzte Ian. „Seitdem habe ich ihn nie wieder gesehen.“
„Verstehe“, nickte die Hüterin des Wissens. „Dann war er es“, sagte sie. „Ich glaube, er war es in der Tat.“
Kapitel 27. Der Schwarze Dämon.
Die Herrscherin der Unterwelt machte es sich bequem auf dem Thron und blickte nachdenklich auf die rötlichen Flammen der Fackeln. Sie schlug den schwarzen, diamantenbesetzten Fächer langsam auf und zu. Sein rhythmisches Klackern ähnelte dem Schlag eines Metronoms. Die Wächter hatte sie weggeschickt. Sie wollte allein sein.
Plötzlich ging die schwere Tür in der hinteren rechten Ecke auf. Ein Mann mittleren Alters mit schulterlangem, welligem, dunklem Haar, in eine Magierrobe aus schwarzem Atlas gekleidet, betrat den Saal. Er lief leichten Schrittes zur Mitte, stellte sich einige Schritte vor ihr und beugte sich kurz vor.
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