Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
Salbe in der Hand, das einen ekelerregenden, süßlich-säuerlichen Geruch verströmte. Sie stellte es auf den aus Holzkisten behelfsmäßig gebastelten Nachttisch ab und riss seine Decke herunter. „Her mit deiner Hand!“
Ian rührte sich nicht. Er lag still da, Augen zu und tat, als ob er schlief.
„Versuch mich nicht zu veräppeln, junger Mann! Dazu bin ich zu alt! Man kann mit der Verbrennung zweiten Grades nicht schlafen. Also her damit!“
Er drehte sich um und streckte seine mit dicken Blasen übersäte Hand zögerlich ihr entgegen.
„So etwas Bescheuertes!“ Sie setzte sich vor ihm auf einen alten Stuhl, pikste die Blasen nacheinander mit einer dünnen Nadel ein und ließ die Flüssigkeit langsam ablaufen, indem sie leicht auf aufgequollene Haut drückte. Dann schmierte sie eine dünne Schicht Salbe darauf, die dabei noch strenger roch und in ihm eine Welle Übelkeit hervorrief, und verband die Hand mit einer weißen Mullbinde fest. „Du kannst morgen zum Arzt gehen, dich krankschreiben lassen. Dann kannst du dir die Schule ein paar Tage lang sparen.“ Sie sammelte ihre Sachen auf und verschwand hinter der Tür.
Doch bald lief sie wieder herein. Sie hielt einen großen Becher in der Hand, aus dem es kräftig dampfte und nach Minze und Honig roch. „Hier“, sagte sie im Befehlston und stellte den Becher auf den Nachttisch neben seinem Bett. „Davon schläft man gewöhnlich gut. Das kannst du jetzt brauchen.“
Ian lag mit dem Gesicht zur Wand und machte keine Anstalten, sich umzudrehen.
„Trink ihn aus, solange er noch warm ist, sonst nutzt es nichts“, raunte sie und ließ die Tür hinter sich fallen.
Er wandte sich um, stütze sich auf den Ellbogen und nahm einen Schluck aus dem Becher. Kräutertee mit Waldhonig versüßt schmeckte ausgezeichnet. Wohlige Wärme breitete sich in seinem Inneren aus, machte den Kopf schwer und ließ das Blut in seiner Hand weniger stark pochen. In einigen Minuten schlief er tief und fest und hörte nicht mehr, wie die Alte nochmals in sein Zimmer reinlief. Sie nahm den leeren Becher, deckte ihn zu und nickte zufrieden, als sie sein entspanntes Gesicht sah.
Im Frühling, sobald es wärmer wurde, musste er nach der Schule die Gänse auf die Wiese hinaus treiben und auf sie dort aufpassen, bis sie abends von allein zurück watschelten. Er durfte wieder in sein Zimmer, wenn alles im Haushalt erledigt war.
Nachmittag mit den Gänsen war für ihn die schönste Zeit des Tages. Er liebte es, draußen auf der grünen Wiese zu sein, die Sonne auf die Nase scheinen zu lassen, den Lerchen im hohen Himmel und dem Geflüster der Gräser zu lauschen. Er schloss die Augen, hörte zu, was sie einander erzählten, lächelte vor sich hin und wünschte sich, die Augen aufzumachen und sich im großen Kaminzimmer wieder zu finden, seine Oma bei den Blumen an der Fensterbank zu sehen, wie sie morgens die Fenster im Sommer aufmachte, um den frischen Wind rein zu lassen. Da war stets große Aufregung bei den Pflanzen! Gemurmel der Dankbarkeit breitete sich von allen Seiten aus! Neuigkeiten aus der weiten Welt stand nichts mehr im Wege.
Ein Gespräch von den Gänsen riss ihn aus seinen Tagträumen. Eine weiße, große Gans, die nur ein paar Meter entfernt vor ihm stand, erzählte dem kleineren, grauen Gänserich etwas über ihn. Ian hörte genauer hin.
„Er wird in der Oberwelt vermisst“, sagte die weiße Gans. „Sie braucht dringend die Drachen zurück, sonst kommt sie in große Schwierigkeiten.“
„Welche Schwierigkeiten?“, gackerte der Gänserich und sah sie verständnislos an.
„Es ist die schlimmste Bedrohung aller Zeiten. Die Unterwelt will die Oberwelt verschlingen. Wenn die Drachen nicht bald kommen, wird es ganz düster dort werden. Und wenn das geschieht, dann ist ihr Ende nicht mehr weit.“
„Woher hast du denn das schon wieder?“ Der graue Gänserich neigte seinen kleinen Kopf fragend zur Seite und musterte die weiße Gans.
„Der Wind hat die frischen Neuigkeiten gebracht.“
„Was du so alles hörst …“ Er guckte sie verdutzt an und wandte sich zu den Steinchen, die er zwischen den Grashalmen aufsuchte und mit Bedacht eins nach dem anderen aufpickte. Er hob schließlich seinen Kopf und sagte: „Du hast wohl ein schlechtes Kraut gefressen. Hier gibt es eins. Wenn man nicht aufpasst und es runterschluckt, dann träumt man schlecht und sieht ganz komische Sachen.“
„Daran liegt es nicht“, antwortete die weiße Gans beleidigt. „Es ist
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