Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
sagte der Junge.
„Na immerhin“, nickte sie. „Nenne mich einfach Tante Barbara.“
Er machte große Augen, ließ den Becher halbwegs auf die Fensterbank fallen. Eine Pfütze bildete sich darauf. „Sie sehen aber nicht wie eine Tante aus“, stammelte er.
„Das ist mir gerade egal, wie ich für dich aussehe!“, raunte sie. „Du darfst dich freuen, dass du bei mir bleiben kannst.“
Ian hob den Becher wieder und nahm einen Schluck. „Das schmeckt gut!“
„Und falls dich jemand fragt, ich meine diese Halbfertigen da draußen, in der Schule, wo du demnächst hingehst oder eben woanders, dann sagst du Folgendes: Deine Familie ist bei einem Unfall ums Leben gekommen und ich bin deine Großtante, die einzige verbliebene Verwandte, die sich bis auf Weiteres um dich kümmern wird.“
„Ist es wahr?“ Entsetzen spiegelte sich in seiner Stimme.
„Das ist auf jeden Fall nicht allzu viel gelogen“, seufzte die Alte, ihre Miene ernst.
„Aber …, aber …“, stotterte er und die Tränen flossen wieder.
„Ob du heulst oder nicht, das ändert rein gar nichts.“ Sie zog die Tür auf und schielte zu ihm über die Schulter.
Er verbarg sein Gesicht in den Händen, seine Schultern zitterten.
„Wenn du eh nicht schläfst, dann tue etwas Nützliches“, befahl sie. „Draußen auf dem Hof liegt jede Menge Holz. Beim Herd findest du den Korb dafür. Sehe zu, dass du ihn voll zurück in die Küche bringst. Aber nicht trödeln! Ich brauche es sofort!“
Sie lief zum Herd, stellte einen anderen Topf auf die glühende Fläche und goss aus einem großen Eimer Wasser hinein.
Ian wischte sich die Augen mit der Rückseite seiner Hand und trottete ihr hinterher. In der Küche blickte er hilflos um sich. „Meinst du etwa das da?“ Er zeigte mit dem Finger in die Ecke auf etwas, das wie eine große, geflochtene Tasche aussah und hauptsächlich aus Löchern zu bestehen schien.
„Einen anderen gibt es nicht!“, polterte die Alte. „Ab mit dir! Ich brauche es sofort!“
Als er vollen Korb in die Hütte auf den Knien vor sich reinschob, grinste sie verstohlen vor sich und rief zu ihm: „Ist in Ordnung fürs erste Mal. Später musst du schneller arbeiten. Aber das kommt noch. Keine Sorge. Schuften bringe ich dir bei.“
Ian sah zu ihr halb bittend, halb verängstigt auf. „Weiß du wirklich nicht, wo mein Drache geblieben ist?“, fragte er leise.
„Nein, nie so etwas gesehen“, krächzte sie und schüttelte in den Topf etwas aus einer großen Tüte, das wie getrocknete Froschbeine aussah.
„Oma drückte den mir in die Hand und meinte, ich soll ihn festhalten. Aber als ich da draußen vor dem Haus in den Brennnesseln in die Hände schaute, war er weg.“
„Keine Panik, den finden wir“, erwiderte sie zuversichtlich, „früher oder später“, fügte sie leise nach einer Pause hinzu. „Dir passiert schon nichts“, versprach sie und rührte langsam im Topf.
Der Junge stand immer noch da und guckte in seine leere Hand, als wenn er hoffte, dass die kleine Figur dort aus dem Nichts auftauchte.
„Jetzt ab in dein Zimmer. Ich habe dir ein Bett aus alten Decken zusammengesucht. Da liegen auch ein paar saubere und trockene Klamotten bei. Sie sind zwar nicht unbedingt von deiner Größe, aber fürs Erste werden die wohl reichen. Eine Schüssel mit Wasser steht in der hinteren Ecke rechts vom Fenster. Seife und Tuch liegen daneben. Die Tage musst du damit vorlieb nehmen. Später sehen wir weiter.“
Ian trottete zu der schiefen Tür, sein Kopf hing zwischen den Schultern.
„Du musst in die Schule. Also morgen früh gehen wir ins Geschäft in der Siedlung und holen dir, was du dafür brauchst“, schickte sie ihm hinterher. „Dein Bett wird im Laufe der nächsten Woche geliefert.“
Er nickte und ließ die Tür hinter sich fallen. Zum ersten Mal in seinem Leben er war froh, wieder allein zu sein.
Die Zeit verging. Es war ihm, als wenn er in einen trüben Sumpf versunken war, in dem alles, was schief gehen konnte, mit Sicherheit auch schief ging. Er mühte sich ab, einen Platz in dieser neuen Welt zu finden, die die Alte mit einer zufriedenen Miene stets als realistisch und gerecht titulierte, aber seine Mühen waren meist vergebens.
Es war einmal ein kalter Abend Ende November. Dichter Nebel hing seit Tagen im Tal. Es war bereits dunkel und fing an zu nieseln. Er sehnte sich nach dem Licht, der Sonne, der Wärme und all den Dingen, die er in der Oberwelt früher für so selbstverständlich
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