Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
zu tun ist!“ Sie lief die Treppe hoch und knallte die Tür hinter sich zu.
Ian rieb sich den schmerzenden Arm, trottete zum Schuppen, holte den Besen und fing an, den Staub im Hof neu zu verteilen.
Am nächsten Morgen in der Schule dachte er über die Geschehnisse des vorigen Tages nach. Er blickte verträumt aus dem Fenster, während der Mathelehrer seine wilden Formeln energisch auf der Tafel mit der quietschenden weißen Kreide kritzelte. Die Worte der Gänse gingen ihm immer wieder durch den Kopf. Er stellte es sich bildlich vor, er wäre ein Drache und könnte hoch im Himmel kreisen, dort oben, in diesem tiefblauen Himmel und alles von dort aus sehen: die Wiese, das Häuschen der Alten, die Schule, die Siedlung, einfach alles. All seine Sorgen wären weit weg von ihm. Dann würde er auf dem hohen, kahlen Berg landen. Wie mag das alles von dort aus ausschauen?
Als er etwa elf war und unter den Kindern seines Alters längst als ein Sonderfall galt, geschah etwas, das sein Leben noch schwerer machte. Das Rauchen war strikt in der Schule sowie auf dem Hof verboten. Ein paar Kameraden versteckten sich in der hinteren Ecke des Schulhofs und zündeten sich ihre Glimmstängel in der Pause an.
Ian lief zufällig vorbei. Er sah, dass sie rauchten, und sagte: „Gleich kommt der Direktor“, und ging weiter.
Die Jungs grinsten: „Ist ja gut, du Träumer. Es sei, dass du uns gleich verpetzen tust.“
Der Direktor kam in der Tat um die Ecke und erwischte die Raucher. Alle erhielten noch am selben Tag den Verweis von der Schule.
Als er nach Hause kam, schrie ihn die Alte sofort an. „Was bildest du dir ein? Was mischst du dich in die Sachen ein, die dich nichts angehen? Willst du denn dein Leben komplett ruinieren? Lass sie doch tun, was sie wollen!“
Er guckte sie erstaunt an. „Hätte ich lieber schweigen sollen? Ich habe sie gewarnt. Sie hatten ihre gute Chance abzuhauen.“
„Deren Chancen sind nicht dein Problem! Mische dich ja nicht ein! Kümmere dich um deinen eigenen Kram!“ Ihre Augen schossen Blitze.
„Ja, aber ich dachte, wenn ich sie vorwarne, dann passiert ihnen nichts ...“, flüsterte er. „Und jetzt …“
„Du kannst diese Leute nicht ändern! Und du kannst ihnen auch nicht helfen! Du schadest nur dir selbst. Du darfst keinem zeigen, dass du mehr siehst als die meisten anderen zusammen! Tue wenigstens so. Dann bist du auf der sicheren Seite und erscheinst wenigstens so gewöhnlich und normal wie die anderen. Damit fährst du besser, als mit deinen unsinnigen Heldentaten!“
Ian nickte und trottete mit hängenden Schultern in sein Zimmer.
„Holz holen, Wasser auffüllen, Hof fegen, Boden wischen, Latrine putzen. Ab mit dir! Wenn ich zurück bin, prüfe ich alles genau nach!“, befahl sie und rannte aus dem Haus.
Als er mit der Arbeit fertig war und in die Küche kam, stand die Alte vor ihren Regalen und schob die Gläser hin und her, als ob sie etwas suchte. Sie drehte sich nicht mal zu ihm um. Er ging in sein Zimmer, öffnete das große Fenster, setzte sich auf die Fensterbank und dachte an die alten Zeiten, an das große Wohnzimmer, das schöne, weiche bläuliche Feuer im Kamin und an die flüsternden Blumen auf der Bank davor. Der unwiderstehliche Geruch nach frischem Gebäck, der oft aus der Küche kam, kitzelte ihm die Nase. Hier, im Haus der Alten roch es oft merkwürdig, zeitweise eklig. Und sie buk niemals etwas, geschweige denn von etwas Leckerem. Er seufzte.
Plötzlich flog die Tür auf und schlug kräftig gegen die Wand. Ein paar Brocken vom Stuck fielen herunter. Die Alte stand in der Tür. Ihre Augen schossen Blitze, die Wangen rot vor Zorn. In der Hand hielt sie einen Becher, aus dem ein leichter Dampf emporstieg. „Wenn es dir hier nicht gefällt, kannst du sofort gehen! Keiner wird dich hier aufhalten! Geh nur! Vielleicht findest du jemanden, der dir jeden Tag frisches Brot und dein heißgeliebtes süßes Zeug bäckt und gute Nacht Lieder singt!“
„Woher weißt du, was ich gedacht habe?“ Er blickte sie verwundert an.
„Weil du deine Gedanken offen hältst. Es ist zu einfach, sie abzulesen.“ Sie ging auf ihn zu, stellte sich vor ihm, der Becher gefährlich nah an seinem Gesicht. „Entweder schließt du die Gedanken, wie ich es dir schon paar Mal gezeigt habe oder du vergisst all diesen Kram von früher, und zwar gründlich. Das ist der beste und sicherste Weg schlechthin. Vergessen sollst du! Du darfst nicht darüber nachdenken, was früher war! Dein
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