Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
damit jeder sofort sieht, dass sie nicht normal ist!“ Die Frau machte den Mund plötzlich zu, musterte mich eine Zeit lang eingehend und sagte: „Sie scheinen mir von der gleichen Sorte zu sein, obwohl ihre Augen gleich und eigentlich sind. Wenn Sie so um das Biest besorgt sind, warum nehmen Sie es nicht mit? Gleich und Gleich gesellt sich gern.“
Vor lauter Überraschung schnappte ich nach Luft. „Wird denn keiner hier sie vermissen? Was ist mit ihrem Vater?“
„Der wird sich damit schon abfinden“, verkündete sie. „Er ist jeden Tag draußen in der Steppe bei den Tieren. Er sieht das Biest kaum noch. Abgesehen davon, er kann seine Tochter auch nicht in den Griff bekommen. Wenn sie die Sachen durch die Jurta schleudert, geht er raus. Diese verfluchte Sippe!“ Ihre Augen blitzten zornig auf. „Die Mutter seiner ersten Frau war eine Schamanin und deren Mutter auch. Was weiß ich, wie viele Generationen zurück das geht. Die Oma der Kleinen war also eine ganz Bekannte! Den Fluch hat sie wohl von ihr geerbt. Aber ich brauche hier so etwas nicht. Ich komme aus einer bodenständigen Familie. Ich kann meinem Mann andere Kinder schenken. Einen Sohn, einen Erben, einen Stammhalter“, sie blickte stolz auf ihren Bauch, der sich unter der verwaschenen Schürze leicht wölbte. „Sobald unser Junge da ist, wird Zaaren die Kleine vergessen. Ein Mann wie meiner braucht einen Sohn, der ihm bei der Arbeit hilft. Und ich könnte im Haushalt auch jemanden gebrauchen. Als nächstes bekommen wir ein Mädchen“, verkündete sie selig lächelnd. „Ich brauche eine fleißige Helferin, die macht, was ich sage. Nicht so etwas wie diese kleine Missgeburt“, sie zeigte mit dem Kinn auf den kaputten Kinderstuhl, „ sie bringt nur Chaos und unnötige Arbeit. So jemand gehört nicht hierher.“
„Was ist mit der ersten Frau passiert?“
„Sie ist im Kindbett gestorben. Sehen Sie? Ihre eigene Mutter hat das Biest umgebracht. Und jetzt darf ich mich mit so was herumplagen?!“ Sie stupste mit dem dicken Zeigefinger auf das eigene Brustbein.
„Es reicht“, sagte ich ernst. „Ich werde nochmals kommen und mit ihrem Mann sprechen. Noch heute.“
„Tun Sie das!“ Die Steppenfrau drehte mir ihren runden Rücken zu. „Er ist zum Glück am Abend wieder da“, warf sie über die Schulter.
Ich ging zum Mädchen zurück. Es saß auf der Decke und guckte nachdenklich in die Weite der Steppe. Frischer Wind wehte ihm ins Gesicht und brachte winzige Sandkörnchen mit. Die Kleine kniff die Augen zu, drehte sich zu mir um und fragte: „Wieso bist du gekommen?“
Ich kniete mich vor ihr. „Ich kam hierher, um dich zu treffen.“
„Und wie? Ich habe dich nicht kommen sehen. Hier sieht man weit.“
„Das kann ich dir mal später erzählen“, lächelte ich. „Sage mir lieber, wie du heißt.“
Sie blickte misstrauisch. „Nenne mich Anna.“
„Das ist aber ein ungewöhnlicher Name für ein Mädchen wie dich.“
„Ich habe auch einen anderen, meinen richtigen Namen. Den darf ich aber Fremden nicht sagen“, sagte sie ernst.
„Ach ja? Wie vorsichtig von dir. Ich sehe, du bist ein kluges Mädchen.“
Anna blinzelte, neigte ihren Kopf zur Seite, sah mich aufmerksam an und fragte: „Und wie heißt du?“
„Ich bin Alphira, die Großmagierin der Oberwelt. Du kannst mich auch einfach Oma nennen, wenn du willst.“
„Gut“, lächelte sie. „Oma gefällt mir. Wobei du nicht wie eine Oma aussiehst.“
Ich musste lachen. „Danke fürs Kompliment.“
Ich kam nochmals am Abend in die Jurta, um mit dem Vater des Mädchens zu sprechen. Ein junger, drahtiger, kleiner Mann mit einem flachen, von der Sonne gegerbten Gesicht, breiter Nase, rauen Händen und krummen Beinen blickte mich mit seinen traurigen, dunkelbraunen Augen lange an, bevor er sagte: „Ich habe das Gefühl, dass die Kleine es bei Ihnen besser haben wird.“ Er unterdrückte einen Seufzer. „Ich kann mich nicht um sie kümmern. Und meine Frau kommt mir ihr nicht klar. Ich hoffe, meiner Tochter wird es bei Ihnen gut gehen.“
„Das steht außer Frage“, sagte ich bestimmt. „Ich habe von ihrer Frau gehört, Anna kann Gegenstände verschieben, ohne sie zu berühren. Haben Sie es selbst miterlebt?“
„Ja, das habe ich. Das ist …“, er blickte nachdenklich an mir vorbei, „als wenn ihre Großmutter wieder da ist. Wenn sie schlechter Laune war, flog schon mal alles Mögliche durch die Gegend. Sie war eine große Schamanin. Jeder kannte sie. Jeden
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