Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
sich und ich schaute genauer hin. Die Gesichtshälften waren ungleich. Wenn ich es von links anguckte, schien die Kleine leicht zu lächeln. Von der rechten Seite aber trug sie eher einen ernsten Ausdruck.
Ein großer, gelber Hund, ein Mischling unbekannter Rassen, schlief zusammengerollt hinter ihr: die Nase unter den Hinterläufen, seinen Rücken an das Rücken des Mädchens gepresst.
Was mich am Meisten wunderte, war ihre Gelassenheit. Keine Spur von Angst, Panik oder Tränen. Es gab keine Erwachsenen in der unmittelbaren Nähe. Erst Hunderte Schritte weiter westlich konnte ich eine menschliche Behausung, ein rundes, weißes Zelt erkennen. Die Kleine guckte auf die Steine auf der Filzdecke, sammelte sie wieder und ließ sie erneut fallen.
Ich schritt auf sie zu, ging in die Hocke, damit ich das goldfarbene Gesichtchen besser sehen konnte und fragte: „Wie heißt du? Was machst du hier ganz allein?“
Sie blickte mich aufmerksam an, den Kopf zur Seite geneigt und sagte: „Ich bin nicht allein. Und Freundchen ist auch da.“ Sie schielte dabei auf den Hund.
Ich musste über ihre Augen staunen: Das eine war grün wie das frische Frühlingsgras, das andere bernsteinbraun. „Hast du denn keine Angst?“, fragte ich, ohne mir etwas anmerken zu lassen.
Sie guckte mich an, als ob ich etwas Sinnfreies gefragt hätte, und sagte leise: „Hier gibt es nichts zu fürchten. Hier sind nur die guten Geister.“
Ich musste ob der Ernsthaftigkeit, mit der sie mich belehrte, lächeln. „Hier sind also nur die Guten. Verstehe“, nickte ich.
Sie ließ sich weiter nicht stören und verteilte die Steine in einer bestimmen, nur ihr bewussten Ordnung auf der Decke vor sich.
„Und wo sind dann die Bösen?“
Das Mädchen streckte die Hand aus und zeigte in Richtung vom weißen Zelt, ohne dorthin zu blicken: „Da.“ Es dann streichelte den Hund über den breiten Rücken, nahm die Steine wieder in die Hand und, ihr Lied weiter summend, ließ sie wieder auf die Decke fallen.
Ich wollte die Kleine hochheben und mit ihr zur Jurta gehen, doch dann sah ich, dass ihr Fuß an einem dicken Pfosten festgebunden war. „Wer hat dich hier angebunden?“, fragte ich und gab mir alle Mühe, mein Entsetzen nicht preiszugeben.
„Die Mondoon“, sagte sie ruhig, ohne ihren Blick von den Steinen abzuwenden.
„Wer ist das?“
Die Kleine schob ihre Augenbrauen, die an die ausgebreiteten Flügel einer schwarzen Möwe erinnerten, zusammen und sagte leise: „Meine Stiefmutter.“
„Sie hat dich hier also mit Absicht ausgesetzt?“
Sie nickte kaum merklich.
„Hast du etwas Böses getan?“
„Nein“, sagte sie und blickte mich offen aus ihren klaren, schönen, ungleichen Augen an. „Ich bin nicht Böse“, fügte sie bestimmt hinzu.
„Gut zu wissen“, schmunzelte ich. „Bist du auch nachts hier?“, fragte ich vorsichtig.
„Manchmal“, antwortete das Mädchen, keine Regung im Gesicht. Die Stimme klang so unbeteiligt, als wenn es die natürlichste Sache der Welt wäre.
Mir lief ein kalter Schauder über den Rücken.
Wir schwiegen eine Weile.
„Bist du öfters nachts hier?“, fragte ich schließlich, als ich wieder zu mir kam.
„Ja“, nickte die Kleine. „Immer wenn Vater mit der Herde weg ist.“ Dann nahm sie die Steine in ihre kleine, zur Schaufel geformte Hand, bedeckte sie mit der anderen, schüttelte sie kräftig durch, ließ sie wieder auf die Decke fallen und betrachtete das neue Muster mit stiller Konzentration.
Solche Steine hatte ich noch nie gesehen. Ich konnte vermuten, dass es eine Art Weissagung war, etwas wie die einheimischen Runen. Dass ein Mädchen von höchstens fünf Jahren sich damit so ernsthaft beschäftigen konnte, das war für mich ein Zeichen. Ich guckte die Steine genauer an. Jeder trug sein eigenes Muster, das in die glatte Oberfläche eingekerbt und mit weißer Farbe nachgemalt worden war. Es waren überwiegend simple Formen: ein Kreis, ein Rechteck, ein Pfeil, ein Haus oder ein Baum.
„Gehören sie dir?“, fragte ich.
„Ja“, nickte sie, ohne zu mir hoch zu blicken.
„Hat sie dir jemand geschenkt?“
„Mein Vater.“
„Und was liest du daraus?“
„Meine Zukunft“, sagte sie und guckte mich aufmerksam an. „Kennst du so etwas nicht?“
„Was meinst du?“, lächelte ich.
„Die Steine.“
„Diese Art der Weissagung kenne ich schon, aber dass man es gerade mit solchen Steinen macht, das sehe ich zum ersten Mal“, gab ich zu.
Das Mädchen sammelte sie wieder von
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