Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
der Decke, eins nach dem anderen. Es hielt sie fest in ihren kleinen Händen, guckte mich ernst an und sagte: „Sie sind sehr alt. Sie gehörten früher meiner Großmutter. Sie war eine große Schamanin. Wenn ich sie in den Händen halte, spüre ich immer noch ihre Wärme.“
„Ach so ist es! Verstehe.“
Sie wandte sich wieder ihren Steinen zu.
„Und ich gehe jetzt zu deiner Stiefmutter“, sagte ich. „Ich muss mit ihr reden. Willst du mit?“
Sie blickte mich an, als wenn sie abschätzen wollte, ob ich es ernst meinte. Das hübsche Gesichtchen blieb unbewegt. Einige Tränen, die aus den Winkeln ihrer Mandelaugen die Wangen herunterliefen, blitzten in der Sonne auf. Ich beugte mich vor und sammelte die klare Flüssigkeit in eine kleine Muschel aus weißem Gold, die ich immer bei mir trug. Sie füllte den Raum in ihrem Inneren voll aus. Ich schloss die Muschel fest zu und steckte sie in die Tasche meines Reisemantels. „Du willst also hier bleiben“, stellte ich fest und sah sie fragend an.
Sie nickte und ließ die Steine wieder auf die Decke fallen.
Ich ging zu dem weißen runden Zelt. Sein Dach, mit Tierfellen vollständig bedeckt, lief in der Mitte zu einem Konus nach oben zusammen. Aus der Spitze ragte ein vor Rust schwarzes Rohr. Ich öffnete die niedrige Tür, schritt hinein und prompt stand ich vor einer rundlichen jungen Frau, die mir höchstens bis zur Schulter reichte. Braunes Mondgesicht, dunkle, glatte Haare zu einem Dutt im Nacken festgebunden, musterte sie mich misstrauisch aus ihren schmalen, schwarzen Augen.
„Was wollen sie?“ Eine Mischung aus Angst und Aggressivität schwang in ihrer Stimme.
Ich lächelte ihr freundlich zu und sagte: „Guten Tag. Ich bin Alphira, die Großmagierin der Oberwelt. Ich bin wegen des kleinen Mädchens hier, das draußen allein spielt.“
Die Steppenfrau zog ihre mächtigen, schwarzen Augenbrauen zusammen. „Und was geht Sie das an?“
„Die Kleine ist ganz allein dort. Das könnte gefährlich für sie sein. Außerdem ist sie fest angebunden. Ich wollte wissen, ob es auch so gemeint war.“
Die Frau setzte ihre kleinen geballten Hände auf die runden Hüften und schrie: „Ja, es war so gemeint! Ich habe sie von meiner Jurta ferngehalten, damit hier endlich Ordnung und Ruhe einkehren! Sie haben keine Ahnung, was es für eine ist! Man kann diesen Teufelsbraten nie ohne Aufsicht lassen! Prompt fliegt hier alles durcheinander!“
„Was fliegt hier genau?“, fragte ich entrüstet.
„Löffel, Messer, Pfannen, Eimer, sogar kleine Möbelstücke! Dieser Stuhl hier“, sie richtete ihren kurzen Zeigefinger auf einen Kindersitz an der Tür, dem eine Lehne und ein Bein fehlten, „der ist nicht immer kaputt gewesen. Er wurde für sie neu gezimmert. Aber nachdem er von der hinteren Wand dort“, sie zeigte auf die roten Sitze an der gegenüberliegenden Wand, „dahin flog, wo er jetzt steht, ist er nur zum Ofenheizen zu gebrauchen. Oder diese Anrichte“, sie stieß ein Schränkchen mit dem Fuß, das in sich zusammengesunken daneben lag, „alle anderen Dinger, die sie durch die Gegend schleuderte, habe ich schon verbrannt.“
„Und warum war es so?“
„Warum, warum.“ Ihre Hände flogen bis zu den Schultern hoch, dann wieder herunter und klapsten auf ihre runden Oberschenkel. „Fragen sie das kleine Biest warum! Es macht seine Spielchen und ich muss dann dieses Chaos wieder herrichten!“ Ihr Gesicht lief rot an. „Und wenn sie ganz schlecht bei Laune ist, dann schaukeln hier die Wände und die Tür geht ständig von selbst auf und schlägt wieder so heftig zu, dass die Pialas von der Einrichte runter fallen! Wenn es so weiter geht, bricht eines Tages die Jurta zusammen und wir haben kein Dach mehr über dem Kopf. So einen Unfug kann ich hier nicht gebrauchen! Mein Mann ist oft mehrere Tage unterwegs. Ich bin allein hier. Wer soll dieses Desaster wieder in Ordnung bringen? Und was soll ich ihm sagen, wenn er zurückkommt?“
„Finden sie nicht, dass es gefährlich ist, die Kleine draußen allein zu lassen? Sie bringen sie doch zumindest für die Nacht hierher.“ Es war halb Frage, halb eine hoffnungsvolle Wunschäußerung.
Sie zuckte die Achseln und ließ ihren Blick über die Wände schweifen. „Die wird kein Tier so schnell holen“, schnaubte sie. „Es ist doch ein Schamanenkind. Das schlägt sich schon durch. Haben Sie ihre Augen gesehen? Alle normale Menschen haben gleiche Augen. Aber die Kleine ist eben anders! Es ist ein Zeichen,
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