Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
die weitesten Winkel seiner Seele reichte. Er war fast sicher, dass diese Frau etwas Bestimmtes bei ihm zu finden hoffte.
„Es gibt etwas, was du nie vergessen darfst“, sagte sie.
„Es ist unmöglich, etwas zu vergessen, wenn man’s nicht weiß“, erwiderte Ian.
„Das weißt du. Das hast du nur vergessen oder verdrängt.“
„Sag es mir“, bat er. „Dann weiß ich, was du meinst.“
Die Frau lächelte wieder. „Es gibt nur eins, was in der Tat wirklich ist. In jeder Welt. In deiner und in meiner.“ Sie schwieg und blickte ihn prüfend an, als ob sie sich vergewissern wollte, dass er verstand, was sie meinte.
„Was ist es?“, fragte er neugierig.
Plötzlich verschwand ihr Antlitz, als ob es von einer unsichtbaren Hand der kalten Schwärze weggeschnappt wurde.
Ein scharfes Gefühl der Einsamkeit überkam ihn auf einmal.
„Wo bist du?“, schrie er.
Stille.
Er fiel weiter. In seinem Kopf hämmerte es kräftiger. Es war wie ein Gong, der immer wieder schlug.
„Sag es mir!“, verlangte er. „Ich muss es wissen!“
Auf einmal erschien das Gesicht der Frau vor ihm wieder. Sie blickte ihn ernst an. „Du weißt es und sicher kennst du es.“
„So komme ich nicht drauf. Sag es mir!“
Der Blick der Frau wurde etwas wärmer. „Es ist eine enorme Kraft, die in jeder Welt da ist. Sie kann nicht nur die Berge versetzen, es geht wohl um viel, viel mehr.“
„Eine Kraft“, sagte Ian ihr nach.
„Sie muss man vor allem in sich finden, sie wachsen lassen, dann ist das Unmögliche möglich.“
„Das Unmögliche möglich.“
Die Frau nickte und sah ihn wieder mit ihrem durchdringenden Blick an.
„Wie ist der Name dieser Kraft?“
Sie schwieg. Ihr flackerndes Antlitz begann sich aufzulösen.
Seine Fallgeschwindigkeit nahm deutlich zu. Das Rauschen tat in den Ohren weh.
Ihre Worte kamen kaum hörbar zu ihm: „Sie heißt …“
Er konnte sie nicht hören. Und im nächsten Moment verschwand ihre Stimme endgültig. Er raste nach unten immer schneller. In seinem Kopf hämmerte es, als ob ein Schmied ihn mit seinem riesigen schweren Werkzeug unbarmherzig bearbeitete. Kurz darauf schlug er auf etwas Hartes auf und verlor das Bewusstsein.
Anna lief abermals ein kalter Schauder über den Rücken. Die Grausame höchstpersönlich. In unserem Haus. Ich kann’s immer noch nicht fassen. Sie machte sich eine Tasse Tee und setzte sich an den Tisch. Was macht eigentlich unser letzter Drache? Ich habe ihn hier gelassen, als ich losgegangen war. Jetzt ist er nicht mehr da und es sieht nicht so aus, als wenn er gleich auftauchen würde . Sie versuchte, seine Gedanken aufzunehmen: Schwärze, schlechte Luft, Kopfschmerzen. Wo ist er? Unruhe stieg in ihr auf. Nicht, dass ihn wieder dieses Monstrum aufgegabelt hat. Ich muss unbedingt zu Scharta. Sie weiß sicher mehr. Ich kann hier keine Spuren aufnehmen , weder von Ian noch von der Grausamen .
Anna lief hoch in ihr Zimmer, machte sich frisch, zog sich ihr schlichtes Gewand aus hellem Leinen an, dazu all ihre Kraftamulette und Ringe, schnappte den Stein von ihrem Vater und verschwand im dunklen Tunnel.
Nach einer Weile kam Ian zu sich. Das Blut pochte in seinen Schläfen. Der Rücken, die Beine, alles tat nach dem Aufprall weh. Er atmete tief ein. Die Luft war abgestanden wie in einem Keller, der länger nicht mehr geöffnet wurde. Ian machte die Augen auf, sah aber nur die Schwärze. Erdrückende Stille füllte den Raum. Wo bin ich hier? Was ist es? Warum kann ich absolut nichts sehen? Es ist, als wäre ich wieder im Tunnel, der zur Kammer der Hüterin des Wissens führt. Er wollte aufstehen, hob den Kopf kurz an. Die Bewegung bescherte ihm eine Explosion von Schmerzen. Er ließ den Kopf zurücksinken und tastete die Unterlage vorsichtig ab. Sie fühlte sich wie eng aneinander gestellten, ledernen Buchrücken an, denen die Seiten dazwischen fehlten. Ian streckte die Hand aus und tastete weiter. Rechts, in einer Armlänge entfernt, gab es eine rechtwinkelige Kante und nur die Leere dahinter.
Er seufzte. Dieses Pochen! Das treibt mich noch in den Wahnsinn! Er wartete eine Weile ab. Nichts veränderte sich. Das Blut peitschte gegen seine Schläfen nach wie vor.
Aufstehen! Er setzte sich ruckartig und schrie sogleich vor Schmerz auf. Es fühlte sich an, als ob sein Kopf mit einem schweren Bleiball gefüllt war und dieser gegen den Schädel von innen mit beharrlicher Kraft hämmerte. Er presste die Hände an die Schläfen. Der Schmerz wurde stärker
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