Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
verfiel er wieder in seinen fürchterlichen Zustand. Er wusste nicht, wer er war, und torkelte ziellos, mit leeren Augen durch den Großen Wald oder das, was davon übrig geblieben war. Er wurde von manchen Oberweltlern nach Hause zurückgeführt, wenn sie ihn dort mit einem verlorenen Blick irgendwo herumwandern sahen.
Ich stellte für ihn einen Trunk zusammen, der seine Beschwerden mildern konnte. Danach ging es ihm besser, sein Blick wurde klarer, er konnte wieder seine Frau, sein Haus, seinen Hof erkennen, dann wusste er alles wieder. Es machte seiner Frau und mir immer wieder Freude, ihn so zu erleben, wie er, fast wie früher, in guten alten Zeiten der Oberwelt war: ein fröhlicher Mensch, ein guter Bauer und Viehzüchter, der seine Arbeit liebte. Er erzählte Witze und brachte uns zum Lachen. Immer wieder. Seine Frau buk Pflaumenkuchen, den er so gerne mochte und wir vergaßen bei einem Glas Wein für ein paar Stunden die grausame Realität da draußen.“ Eine Träne lief Alphira aus dem Augenwinkel über ihre blasse Wange und tropfte vom Kinn herunter. Sie wischte das Gesicht mit einem schneeweißen Tuch ab.
Die beiden warteten, ob sie weiter erzählen würde. Anna starrte auf sie mit weit aufgerissenen Augen und flüsterte: „Ich habe sie nie weinen sehen. Nie!“
Die Großmagierin atmete tief durch und fuhr fort: „Ich habe keine handfesten Beweise. Aber eins ist mir klar: Nur jemand, der die Oberwelt in und auswendig kennt, konnte sie so sachkundig, so geschickt zugrunde richten. Für vieles, was geschah, hatte ich kein Gegenmittel. Es war eine Art Magie, die ich nicht kannte. Keiner konnte etwas dagegen tun. Und das wurde der Oberwelt zum Verhängnis.“
Der alte Herr der Unterwelt schloss die Tür zu.
„Aber nein, ich wollte sie noch etwas fragen!“, rief die junge Frau.
„Du kannst sie nicht befragen. Sie hat gar nicht mit euch gesprochen. Sie sitzt da so seit geraumer Zeit und lässt die Vergangenheit Revue passieren, als ob sie auf diese Weise eine Lösung zu finden sucht.“
„Schon seltsam, dass Alphira hier sitzt“, sagte Anna nachdenklich. „Sie sieht so jung aus.“
„Es ist nur ein Teil der Vergangenheit, wie es aussieht. Ihre Seele ist aber nicht hier, sie ist ganz woanders.“ Der alte Herr blicke etwas missmutig.
„Aber wie kommt dieses Fragment hierher? Hat Alphira je so mit ihr gesprochen? Merkwürdig …“
„Nun, vielleicht hat die Grausame in ihren Gedanken gestöbert“, riet Ian. „Die Erinnerung davon, was sie dort sah, hat sie dann hier weggesperrt.“
„Ich hätte gerne deine Meinung zu einem Punkt gewusst, der mich brennend interessiert.“ Anna wandte sich zum Herrn der Unterwelt.
„Lasst uns zurückgehen“, sagte er und verschwand in dem dunklen Gang.
Die beiden liefen ihm eine Weile hinterher. Den Weg zurück kannte nur er.
„Was glaubst du, warum die Greda so geworden ist?“, fragte Anna.
„Warum willst du das wissen?“ Die Stimme des alten Mannes hallte zwischen den kahlen Wänden.
„Ich versuche, sie zu verstehen. Vielleicht kann ich dann ihre schwache Stelle finden.“
„Lass uns darüber reden, wenn wir wieder zurück sind“, sagte Ian.
„Gute Idee“, kam von vorne.
Sie liefen eine Weile schweigend, umgeben von vollkommener Dunkelheit. Anna wollte allein sein, um in Ruhe nachdenken zu können. Ian holte den alten Mann ein und lief mit ihm zusammen. Die junge Frau richtete sich nach den Schritten der beiden und humpelte langsam hinterher. Sie grübelte über das Gesehene nach, stellte sich Fragen und fand keine Antworten. Ihre Kraft schwand, sie fiel immer weiter zurück. Ihr kam es vor, dass der Weg zurück ewig dauerte und zeitweise dachte sie, dass sie nie ankommen würde. Nach einer Weile sah sie ein schwaches Licht weiter vorne. Es dauerte noch etwas, bis sie völlig erschöpft aus der Dunkelheit des Ganges auftauchte und sah, dass der alte Herr der Unterwelt wieder auf seinem Platz vor der Lampe mit dem bläulichen Feuer saß. Ian überließ ihr den anderen Stapel und setzte sich auf den Boden.
„Um auf deine Frage zurückzukommen“, sagte der alte Mann und blickte Anna eindringlich an. „Ich hatte genug Zeit über vieles nachzudenken.“ Er seufzte. „Ich kann es nicht wissen, was genau sie dazu bewegt hat. Sie hat jedenfalls verstanden, das Leid anderer als Quelle ihrer Macht und Reichtümer zu benutzen. Je mehr sie austeilte, desto mehr kehrte zu ihr zurück, noch ums Zigfache durch den Schmerz und Pein ihrer Sklaven
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