Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
versuchte.
„Dich taufe ich Anna“, verkündete die Herrscherin.
Die Gans gackerte aufgeregt und schlug mit den Flügeln.
Die Frau in Schwarz wandte sich dem anderen Käfig zu.
Der Gänserich blieb ruhig. Den Kopf zur Seite geneigt, blickte er unverwandt ihr entgegen.
„Du bist Ian.“ Ein zufriedenes Lächeln huschte ihr über die schmalen Lippen. „Und ihr beide seid mir völlig ausgeliefert.“ Sie stieg vom Thron herunter, ging auf die beiden zu, beugte sich vor und streckte ihre Hand zum Gänserich, als ob sie ihn streicheln wollte. Dieser beobachtete sie erst aufmerksam, dann schoss auf einmal den Kopf nach vorne. Sein Schnabel verfehlte nur knapp ihre Finger.
„Dämliches Vieh!“, zischte sie und sprang zurück. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du damit hier etwas erreichen kannst!“ Sie begutachtete ihre Hand, lächelte dann zufrieden. „Ihr kommt höchstens so weit wie die Küche unten im Schloss. Die Köchin macht aus euch einen Gänsebraten. Noch heute!“
Die weiße Gans gackerte wieder auf und schlug kräftig mit den Flügeln.
„Tja, so ist das Leben, meine Dicken. Der eine ist dem anderen seine Mahlzeit.“ Die Frau in Schwarz kehrte auf ihren Thron zurück, beobachtete mürrisch die beiden, dabei öffnete sie gedankenverloren ein paar Mal den Fächer auf und schloss ihn wieder zu.
„Genug gespielt“, verkündete sie schließlich. „Weg mit euch! Ab in die Küche! Da werdet ihr gerupft. Beim lebendigen Leibe ins kochende Wasser gesteckt! Und erst dann werden die Köpfe abgeschlagen. Ich sorge dafür.“ Sie schlug in den Gong, der an der Seite ihres Throns angebracht war. „Köchin! Ab mit den beiden! Sonst werden sie nicht rechtzeitig zum Essen fertig!“
Ein schmächtiger Junge mit blassem Gesicht und einer grauen, von unzähligen Flecken übersäten Schürze erschien in der Tür. Er blickte die Frau auf dem Thron kurz an. Ehrfurcht spiegelte sich auf seiner Miene. Er beugte sich tief vor und fragte: „Welchen Wunsch darf ich euch erfüllen, eure Majestät?“
„Wo ist die Köchin?“, schrie sie.
„Die Köchin ist verhindert und schickt mich“, erwiderte der Junge, seine dünne Stimme zitterte.
„Was treibt diese blöde Kuh? Sie hält es nicht mehr für nötig, auf meinen Ruf vor mir zu erscheinen! Da sind ja ganz neue Sitten! Sie will wohl im Turm landen, wo andere Unnütze aus der Oberwelt auf mein Urteil warten!“
„Sie ist gerade dabei, Eure Mahlzeit zuzubereiten. Die Lammlachse darf jetzt nicht ohne Aufsicht gelassen werden.“
„Zum Henker mit dem Lamm! Heute gibt’s Gänsebraten! Nimm die beiden mit!“ Die Herrscherin zeigte mit ihrem glitzernden, zusammengelegten Fächer auf den Käfig. „Und sorge dafür, dass sie einen leidigen Tod finden! Beim lebendigen Leib rupfen und ins kochende Wasser stecken! Den Schmerz, die qualvolle Todesagonie will ich aus dem Fleisch schmecken!“
Der Junge beugte sich noch tiefer vor ihr. „Ja, Eure Majestät. Wie Ihr wünscht.“ Er lief mit eiligen Schritten nach vorne, hob die Käfige, ließ sie aber sofort los.
„Verschwinde! Bevor ich dich in den Turm zu den anderen gesteckt habe!“
„Sie sind schwer“, winselte der Junge. „Ich kann sie beide nicht wegschleppen.“
„Sehe zu, dass du bei zehn hier weg bist! Sonst wirst du zu einem Gänserich wie der da.“ Sie schwenkte ihren Fächer zu dem Käfig mit dem grauen Vogel. „Los gehts! Ich zähle!“
Der Junge kippte die Käfige, legte sie auf die Seite und rollte sie zur Tür hinaus. Er verschwand dahinter, als die Herrscherin gerade zehn sagte und ein tiefes, diabolisches Lachen ertönte. Die schwere Tür schlug zu.
Sie stieg vom Thron ab, lief zu einem großen Spiegel an der gegenüberliegenden Wand und blickte auf eine kleine, zierliche Frau im langen, üppigen Kleid aus schwarzer Seide. Unzählige Diamanten funkelten darauf im spärlichen Licht der Fackel. „Und morgen bekommst du den Jungen“, sagte sie und grinste zufrieden. „Endlich. Es wird Zeit, dass er aus dieser ordinären Welt der beschränkten Langweiler herauskommt. Er hat ein ganz anderes Schicksal. Und so langsam muss er zusehen, dass er sein Los bekommt. Die Unterwelt wartet auf ihn. Er sollte nur ein Mal das Richtige tun.“
Kapitel 11. Kein guter Tag.
Ian marschierte über die Wiese, das Gesicht rot vor Aufregung. Seine Gedanken kreisten immer wieder um das Gleiche. Ich wollte doch nur helfen! Er wäre sonst jetzt im Krankenhaus. Und ich weiß nicht, ob er es überlebt
Weitere Kostenlose Bücher