Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
von sich zu jagen. Keine Chance. Der Schlaf wollte ihn nicht erlösen. Wenn der Chef jetzt das alles wirklich ernst meint, was soll ich bloß tun? Wie soll ich beweisen, dass ich mit diesen verschwundenen Pailletten nichts am Hut habe? Wenn jetzt ein anderer die Schicht hätte, wäre er jetzt unter Verdacht? Oder ist der Chef der Meinung, ich bin die beste Kandidatur für einen Sündenbock? So ein Mist. Dieser Kerl kriegt ja den Hals nicht voll. Und ich soll auch noch für die Ware bezahlen. Es ist schon echt nicht normal!
Der Wind wurde frischer. Ian drehte sich auf den Bauch und legte die Stirn auf die über einander gelegten Hände. Schlafen, bloß schlafen, an nichts mehr denken. Morgen wird es besser. Bleibt zu hoffen.
Eine Fülle von Bildern und Tönen strömte auf einmal in seinen Kopf und formte sich rasch zu einer zusammenhängenden Handlung. Er sah auf einmal ein Haus, in dem er noch nie gewesen war. Das geräumige Zimmer mit hohen Decken, in dem fast alles aus hellem Holz gestaltet worden war, strahlte eine wohlige Gemütlichkeit aus, die ihn sich sicher und geborgen fühlen ließ. Sein Blick glitt vom hellen Ahornboden mit alten, ausgeblichenen Läufern und Teppichen über die vollen, mit aufwendigen Schnitzereien verzierten Bücherregale zu einer schweren, einige Schritte langen Kommode unter den großen Bogenfenstern. In der Mitte des Raumes stand ein stattlicher runder Tisch, an den sich eine ältere Frau im weißen Gewand anlehnte. Ihre offene, silbern schimmernde Haare reichten fast bis zum Boden. Ein paar Schritte hinter ihr thronte ein breiter Sessel, auf dem eine Tagesdecke mit Sternen und rundem Mond ausgebreitet lag.
Die Frau strahlte etwas Beruhigendes aus. Würde und Gelassenheit waren ein wesentlicher Teil ihrer Erscheinung. Ein leichter Hauch von Lavendel, Honig und Zimt schien von ihr auszugehen. Ians Aufmerksamkeit wurde von einem Amulett, das sie auf ihrer Brust trug, angezogen. Ein filigraner, achtzackiger Stern aus einem hellen Edelmetall mit rundem Stein in der Mitte, der seine Farben fließend wechselte. Erst war er blau, wurde dann grün, etwas später leuchtete er hellgelb. Nach einer Weile ging er in ein leichtes Violett und anschließend klares Perlmuttweiß über.
Eine schmale Frau in Schwarz erschien einige Schritte vor der älteren Frau entfernt. Sie war viel jünger und könnte ihre Tochter sein. Bis auf die Körpergröße und die tiefschwarzen Haare sah sie ihr ähnlich aus: die gerade Nase, die hohen Wangenknochen, die vornehme Blässe feiner Haut, die Brauen, wie die Flügel einer fliegenden Möwe über den mandelförmigen Augen, ein schmaler Mund, der allerdings bei ihr ganz anders wirkte. Er war nervös zusammengekniffen und erinnerte eher an eine Schnur. Eine kalte, unheimliche Ausstrahlung vollendete ihr Erscheinungsbild. Ihre energische, angriffslustige Stimme und der Geruch, eine Mischung aus Verwesung und Schwefel, ließen ihn erschaudern.
„Hol ihn her!“, befahl die Frau in Schwarz. Ihr Blick bohrte sich in die blauen Augen der Älteren. „Das ist deine letzte Chance, dich selbst und dein Haus zu retten. Ich lasse dich dafür hier weiterhin wohnen. Von mir aus kannst du ein kleines Stück Land um das Haus behalten. Das wird dann frei vom Sumpf und meinen Dienern bleiben. Das kann ich dir bieten. Der Rest ist eh schon lange unter meiner Kontrolle“, verkündete sie und grinste dabei selbstgefällig.
Die Frau in Weiß sagte nichts, bewegte lediglich ihren Kopf langsam von links nach rechts und zurück.
Die Jüngere verzog argwöhnisch den Mund. „Also willst du nicht. Klar. Dachte ich mir doch.”
Die Ältere blickte traurig. „Was ist bloß aus dir geworden, Greda“, seufzte sie.
Die kleine Frau zuckte zusammen. Sie trat auf ihre Gesprächspartnerin zu, beugte sich zu ihr leicht vor und flüsterte wütend: „Dieser Name hat mit mir nichts zu tun.“
„Warum hast du mir nie gesagt, dass er dir nicht gefällt? Ich habe dich damals nach deinem Namen gefragt. Du hättest ihn mir ruhig anvertrauen können“, erwiderte die Frau in Weiß.
Greda richtete sich auf, in ihren Augen blitzte der Argwohn durch. „Das habe ich nicht getan, damit du keinen Zugang zu mir bekommst! Wenn du meinen wahren Namen nicht kennst, kannst du auch nicht Besitz von mir ergreifen.”
„Das hatte ich nie vor“, erwiderte die Ältere bestimmt. „Das sind alles deine unbegründeten, obsessiven Ängste.“
„Das ist deine Meinung“, ließ die Frau in Schwarz kühl
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