Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
blickte unentschlossen. „Ich habe in der Lagerhalle gearbeitet, wie du weißt“, sagte er achselzuckend, stand auf, spazierte durch das Zimmer, hielt vor dem großen Fenster gegenüber dem Tisch an und blickte nach draußen in das dunkle Grau. Dann wandte er sich zu Anna und bat: „Erzähl mir lieber etwas von deiner Oberwelt, damit ich sie mir besser vorstellen kann.“
Sie stellte sich ans Fenster, das am weitesten von ihm war, lehnte sich mit der rechten Hüfte an die Fensterbank, blickte zu ihm auf und nickte. „Gut. Ich versuche es.“ Sie holte tief Luft und fing an: „Die Oberwelt ist ein Teil der Anderen Welt. Das Pendant zur Oberwelt ist die sogenannte Unterwelt. Sie ist momentan größer.“ Die Jungmagierin machte eine Pause, sah ihn an, als wenn sie in seinem Gesichtsausdruck etwas finden wollte.
Keine Regung zeichnete sich in seinen Zügen ab.
Sie unterdrückte einen Seufzer und fuhr fort: „Jedenfalls ist sie größer, als es sein dürfte.“
Ian hörte ihr aufmerksam zu.
„Früher war es nicht so. Früher waren die beiden Teile der anderen Welt ungefähr gleich.“ Sie drehte sich auf einmal von ihm weg.
Er sah ihren Kopf mit dunklen, zusammengebundenen Haaren im Nacken, der zwischen hochgezogenen, schmalen Schultern zu hängen schien, ging zu ihr, legte die Hände auf ihre Schultern und flüsterte: „Es wird schon wieder. Alles wird gut.“
Sie schüttelte seine Hände ab. „Wenn es so einfach wäre“, seufzte sie und atmete langsam ein und aus. „Ist gut“, sagte sie in einer festen Stimme, „ich bin gleich wieder da.“ Sie wischte sich schnell die Augen mit dem Handrücken ab und wandte sich ihm zu.
„Was ist los?“ Er nahm sie wieder bei den Schultern und blickte besorgt in ihre geröteten Augen. „Erzähl mir, wie es wirklich ist“, bat er leise. „Ich kann unliebsame Wahrheiten gut ab.“
„Meinst du das ernst?“
„Ja“, nickte er. „Fang einfach irgendwo an. Erzähl mir von deiner Oberwelt, wie sie früher war, zum Beispiel.“
Anna lächelte traurig. „Wenn ich das könnte, würde ich dir zeigen, wie sie früher war. Es gibt keine Worte, um sie zu beschreiben. Man kann sie nicht erzählen. Sie war für mich vor allem eine Lebensweise, eine Weltanschauung, eine Haltung.“ Ihre Stimme brach ab, sie drehte sich wieder von ihm weg und sah zum Fenster hinaus.
Benommenes Schweigen hing zwischen den beiden.
Nach einer Weile räusperte sie sich, atmete tief durch, wandte sich um und setze erneut an: „Die herrliche bunte Oberwelt, so wie ich sie kannte, als ich sie zum ersten Mal sah, die hätte ich dir gerne gezeigt!“ Ihre Augen fingen an zu leuchten. „Sie war atemberaubend schön.“ Die junge Frau blickte verträumt vor sich. „Sie war zwar nicht mehr so perfekt, so intakt, wie in ihren besten Zeiten, aber sie war immer noch großartig. Diese Gelassenheit, die Freude am guten, sinnvollen Leben, die in dieser Welt zu Hause waren und die Gewissheit, dass es immer so weiter gehen würde, durchdrangen alles. Sie schwirrten förmlich in der Luft und waren schon fast greifbar!
Es war toll, einfach da zu sein. Schon allein die Farben machten mich oft kirre im Kopf. Von den ewig grünen Bäumen bis zu den saftigen Wiesen mit ihren bunten Teppichen aus Blumen mit all ihren süßen und herben Düften: Alles war so intensiv, fast überzeichnet, aber immer eigenartig, lebendig und echt! Die Oberwelt war wie ein Lebenselixier. Wenn man sich nur in ihre Arme begab, sie sich aufmerksam anschaute, sie anhörte, sich in sie hinein fühlte, dann gab sie einem eine enorme Kraft für all das, was man zustande bringen wollte. Kein Wunder, dass so viele hochbegabte Künstler, wie Bildhauer, Maler, Musikanten, Schriftsteller, ach, Vertreter aller denkbaren Arten von Kunst in der Oberwelt ihre Zelte aufschlugen.“
Ian zog die Augenbrauen hoch. „War es etwas wie Künstlerkommune in einem Fleck unberührter Natur?“
„Nein, nein! Was für eine Idee!“ Die Jungmagierin lächelte verbittert. „Du verstehst es nicht. Das war viel, viel mehr. Sie war eine eigene Welt mit ihren Regeln, Gesetzen und Wertvorstellungen! Wir hatten natürlich auch geschickte Gewerbetreibende, Bauer und Viehzüchter, aber auch tolle Ärzte, Lehrer, Verwaltungsleute.“
Er blickte sie verwirrt an. „Na dann war es wie in der Menschenwelt.“
„Nein, eben nicht!“ Anna schüttelte energisch den Kopf. „Nicht nur die Natur an sich war einzigartig. Auch ihre Bewohner waren so und nicht direkt
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