Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
mit denen aus der Menschenwelt zu vergleichen. Manche waren so etwas, was ihr Fabelwesen nennt. Es gab viele, die aus der Menschenwelt zu uns kamen und blieben. Daher weiß ich einiges, wie es dort war. Wir nahmen alle auf, die zu uns wollten, und gaben ihnen die Möglichkeit, so zu leben, wie sie wollten, wie sie es für richtig hielten. Sie waren bei uns, um ihre Aufgabe zu finden und ihr wirkliches Leben zu führen.
Das hört sich vielleicht einfach an. Für viele, die aus der Menschenwelt kamen, war es aber nicht. Jedenfalls, aus ihrem neuen Leben heraus konnten sie bestens ihren Teil unserer Gemeinschaft beitragen. Wir ließen es einfach zu, dass sie so waren, wie sie eben waren. Und das funktionierte gut. Abgesehen davon, dass uns an nichts fehlte, waren die Oberweltler zufrieden mit dem Leben, das sie hier führten und mit dem, was sie hier machten, denn es war ihre eigene Entscheidung und ihre Welt. Ich irre mich nicht, wenn ich sage, dass sie hier auch glücklich waren.
Das war auch der Tatsache zu verdanken, dass unsere Welt ganz war. Und wenn man etwas aufteilte, um etwas zu untersuchen, etwas zu verstehen, daraus zu lernen, dann wurde es danach sofort wieder zusammengefügt, selbst wenn beides nur virtuell, also nicht direkt physisch geschah. Es war uns wichtig, dass die gesamte Ordnung und die Oberwelt an sich ganz blieben.“
„Und warum?“
„Weil bei uns alles auf irgendeine Art verbunden war. Und folglich das Glück und Zufriedenheit des einen mit dem Glück und Zufriedenheit des anderen zusammenhing. Die Verbindungen waren sehr wichtig. Ob es gerade auf der Hand lag oder nicht. Auf Dauer zeigte diese Regel ihre Wirkung.“
„Da ist mir jetzt zu abstrakt“, gab Ian entrüstet zu.
„Gut, ein Beispiel“, nickte sie. „In der Menschenwelt gibt es einen Spruch, der besagt, dass wenn ein Sack Kartoffel in einem fernen Land umfällt, darf es den Bewohnern eines anderen Landes, das weit genug davon liegt, recht egal sein. In der Oberwelt war es genau umgekehrt. Man wusste, dass wenn etwas passierte, egal in welcher Ecke, die Auswirkungen sich bald zeigen würden. Und das taten sie auch. Es war eine unumstößliche Regel. Man wuchs damit auf, man brachte sie auch eigenen Kindern bei. Daher waren alle bestrebt, die Ganzheit und das Wohlsein der Oberwelt aufrecht zu erhalten, denn wenn es einem nicht gut ging, war es klar, dass es schneller als man denkt vielen anderen genauso gehen würde.
Und so haben wir stets dafür gesorgt, dass keiner mit seinen Sorgen allein gelassen wurde. Ein Problem wurde sofort von den Nachbarn, Freunden des Betroffenen oder auch von Oma und mir angegangen. Es wurde schnell aus der Welt geschaffen, damit das Elend keine Chance hatte, sich auszubreiten und weitere Oberweltler ins Unglück zu ziehen. Und so war sie lange Zeit eine Welt, in der es allen gut ging, wo viele hinkamen und blieben. Um ihr wahres Leben zu leben. Sie war eine Welt, wo Träume wahr wurden.“ Anna blickte verträumt lächelnd vor sich, dann fügte sie mit gewissem Stolz hinzu: „Für Hunger, Not, Leid oder Ähnliches hatten wir keine Worte in unserer Sprache. Wir waren glücklich und zufrieden in unserer schönen, bunten Welt. Wir waren eins, wir waren ganz.“
„Und was ist passiert?“
„So langsam gab es weniger von den schönen, sonnigen Tagen. Die Feuchtigkeit kroch immer öfter in die Täler rein und blieb dort tagelang hängen. Es wurde nasskalt. Und dieser Nebel“, sie schnalzte missbilligend mit der Zunge, „er wurde zu einer undurchdringlichen Schicht, die die Oberweltler voneinander trennte. Die Luft roch immer strenger nach Schwefel und Verwesung. Diejenigen, die sich noch nach draußen trauten, die noch in den Großen Wald oder auf die Wiesen hinausgingen, wurden von noch nie da gewesenen Kreaturen überfallen. Niemand überlebte so einen Angriff. Und diejenigen, die vor diesen Viechern fliehen konnten, erlagen kurz darauf ihren Verletzungen.“ Sie seufzte und blickte traurig zum Fenster hinaus. Nach einer Pause fuhr sie fort. „Seitdem herrschte die Angst in der Oberwelt. So etwas kannten die Oberweltler bisher gar nicht. Es wurde zu einer Mutprobe und einem Schrecken mit unbekanntem Ausgang, durch den Großen Wald zu gehen. Denn es war nicht selten, dass man die Nachbarn oder Bekannte, mit denen man Feste gefeiert und sich sonst für einen Plausch hin und wieder unter den schattigen Bäumen hingestellt hatte, dort tot oder tödlich verletzt auf dem Boden entdeckte. Und man
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