Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
konnte überhaupt nichts für sie tun!“ Anna schüttelte verzweifelt den Kopf. „Es gab nichts gegen diese Verletzungen. Alles, was wir, also Alphira, ich und die Hexen der Oberwelt an Heilmitteln zur Verfügung hatten, und das war nicht gerade wenig und sonst sehr effektiv, hatten wir ausprobiert, aber es brachte nichts. Die Opfer starben.“ Sie schloss die Augen, hielt eine Weile inne, atmete tief ein und aus und fügte leise hinzu: „Und das Schlimmste war, dass man die Leichen nicht begraben konnte. Nicht wirklich.“
„Was heißt das, nicht begraben konnte?“, fragte Ian entrüstet.
Sie blickte ihn ernst an und sagte: „In der ersten Zeit wurden die Opfer begraben, wie es bei uns die Sitte war: eine Beerdigung auf dem Friedhof, eine Trauerfeier später im Kreis der Familie und Bekannten. Alles, was man eigentlich auch bei euch in der Menschenwelt so kennt.“
Der junge Mann nickte.
„Wie groß war das Entsetzen, dass dieselben Leichen wieder auf denselben Stellen im Großen Wald, auf den Wiesen oder sonst wo gesehen wurden, dort wo sie überfallen worden waren.“
„Nach der Beerdigung?“
„Ja. Kurz darauf. Meist am nächsten Morgen.“
„Und die Gräber?“
„Sie waren offen.“ Ihr Gesicht schimmerte trotz ihrer natürlichen goldenen Hautfarbe grau. Sie schnappte nach Luft.
Ian lief in die Küche und brachte ihr ein Glas Wasser.
Sie trank es in großen hastigen Schlucken aus. „Danke“, flüsterte sie, stellte das Glas auf die Fensterbank, räusperte sich und fuhr fort: „Jedenfalls, als die Angehörigen versuchten, die Leichen wieder in die Gräber zurückzubekommen, war es vergebens. Sie wurden am nächsten Morgen wieder dort, wo sie zuerst gefunden worden waren, gesehen.“ Sie kaute eine Weile auf der Unterlippe, dann setzte hinzu: „Manche Oberweltler haben gesehen, wie die riesigen Echsen, so drei oder vier Schritte lang, auftauchten und die Leichen auffraßen. Der Geruch der Verwesung lockte sie wohl an.“
„Und wer hat es getan? Die Leichen aus den Gräbern rausgenommen? Habt ihr es mitgekriegt?“
Die Jungmagierin schüttelte leicht den Kopf. „Kaum jemand hat sich nachts auf den Friedhof getraut. Es gab auch genug Opfer am Tage. Jeden Tag mehr.“
„Verstehe.“
„Aber einmal habe ich es nicht ausgehalten und ging hin“, gab sie nach einer Pause zu.
„Allein?“
„Ja“, nickte sie und schaute ins Grau draußen. „Ich wollte wissen, wie die Leichen auf die gleichen Stellen zurückkehrten. Ich konnte mich nicht damit abfinden, dass es uns ein Rätsel blieb.“
„Und? Hast du etwas gesehen?“
„Ja, das habe ich.“ Sie schluckte und sah auf das leere Glas auf der Fensterbank hinunter.
„Kannst du mir das sagen?“ Ian bohrte sie mit einem neugierigen Blick.
„Schwierig“, seufzte sie.
„Versuche es. Dir geht es dann besser. Man muss über gewisse Dinge reden können.“
„Nun … vielleicht.“
„Magst du noch Wasser?“, fragte er. „Oder Tee?“
„Nein, danke. Ich habe es gleich.“ Sie atmete tief ein und aus und fing an: „Ich ging um die Mitternacht zum Friedhof. Der Weg führte durch den Großen Wald. Alles war friedlich und dunkel. Ein paar Eulen saßen hier und dort auf den dicken Ästen der alten Eichen und blicken fragend mit ihren leuchtenden Augen auf mich herunter. Einige Mäuse huschten unter den Füßen. Sonst war es totenstill.“
„Und weiter?“, fragte Ian neugierig, den Oberkörper zu ihr nach vorne gebeugt.
„Als ich ankam, war alles wie gewohnt. Ich blieb vor den neuen Gräbern stehen. Mit den Blumenkränzen darauf sahen friedlich und irgendwie festlich aus. Diese gedämpften Farben, die halbverwelkten Blüten und der Geruch der frischen Erde stimmten mich traurig. Ich musste an die Oberweltler denken, die jetzt darin lagen, wobei es viel zu früh für sie war. In der Siedlung auf dem Turm am Rathaus schlug die Uhr zwölf und riss mich aus meinen trüben Gedanken.“
„Und? Hast du etwas gesehen?“
„Wie soll ich es sagen?“ Sie lächelte müde. „Ja und nein.“
„Wie meinst du das?“
„Nun, ich habe nicht gesehen, wer das getan hat.“
„Und was genau?“
Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen und sagte dann: „Gut, ich sage es dir.“
„Ja?“
„Gleich.“ Sie seufzte und fuhr fort: „Sobald die Uhr zwölf schlug, gingen die Gräber auf. Die Kränze flogen durch die Luft, die lockere Erde schoss hoch, die Särge platzten mit einem herzerschütternden Krach und diejenigen, die drin
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