Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
dunkler, grauer, nasser. Der Nebel ging fast gar nicht mehr weg. Er blieb tagein, tagaus in den Tälern hängen. Die Wiesen wurden später zu Sümpfen und Tümpeln voll mit braunem Wasser. Und mit der Zeit kamen die Echsen und andere Diener der Unterwelt. Was daraus wurde, das hast du bereits gesehen.“
Ian starrte vor sich und schwieg.
„Manche alten Schriften machen Mut“, fuhr die Schlange fort. „Sie besagen, die Lage wäre durchaus positiv zu sehen. Die gegenwärtige Situation bedeute lediglich, dass die Unterwelt den Höhepunkt seiner Macht erreicht hat. Die Gunst des Schicksals sei nicht mehr auf der Seite des Bösen. Der Pegel schlage zurück. Jetzt könnte es für die Oberwelt so langsam aufwärts gehen. Der Zeitpunkt wäre günstig, um die Drachen zurückzuholen. Die Frage ist, ob wir diese Schwingung unterstützen können. Oder wollen.“ Scharta richtete ihre riesigen Augen auf ihn. „Ob wir diese Chance nutzen und uns um eine glückliche Zukunft für die Oberwelt bemühen, oder lassen wir sie einfach fallen.“
„Dann versinkt die Oberwelt in der Unterwelt. Und es gibt keinen Ort mehr, wo Träume wahr werden“, fügte Anna traurig hinzu.
Er sah gedankenversunken auf die Wand, auf der die Drachen noch gerade eben über die Wiese rannten und im klaren Nachthimmel im Mondlicht kreisten, und sagte kein Wort.
„Den geheimen Überlieferungen nach“, erzählte die Schlange weiter, „trägt der letzte Drache den Zugang zu einer enormen Kraft in sich, der Kraft seines Volkes, seiner Vorfahren. Er könnte den Fluch bannen und das Drachenvolk wieder auferstehen lassen.“
Der junge Mann atmete tief durch, hob den Blick und fragte: „Und warum, glaubst du, müsste ich das alles wissen?“
Scharta sah ihn durchdringend an und sagte schließlich: „Du bist wie ein junger Baum mit abgeschlagenen Wurzeln. Du weißt nicht, woher du kommst, daher kannst du nicht wissen, wer du bist und entscheiden, wohin die Reise sehen soll.“
„Und warum sollte es so wichtig sein?“
„In dem Wissen birgt sich die wahre Kraft.“
„Du sprichst in Rätseln.“ Er zuckte die Achseln.
„Ich finde, klarer geht es nicht“, bemerkte Anna verärgert.
Ian schüttelte den Kopf. „Nicht mir.“
„Es war ein langer Tag“, sagte die Schlange. „Es ist besser, du ruhst dich jetzt aus.“
„Vielleicht hast du auch recht“, sagte er seufzend. „Bloß so viele Märchen auf einen Schlag habe ich schon lange nicht mehr gehört. Mir schwirrt einfach der Kopf. Vor allem, ich habe immer noch keinen blassen Schimmer, was ich damit anfangen soll.“
Die Jungmagierin tauschte einen kurzen Blick mit der Hüterin des Wissens aus, lächelte aufgesetzt freundlich und verkündete: „Gut. Wir gehen nach oben. Eine Nacht sollte man darüber schlafen. Und morgen ist ein anderer Tag, dann sehen wir weiter.“ Sie umarmte die Schlange kurz zum Abschied.
Er nickte ihr zu und die beiden stiegen in den dunklen kalten Tunnel hinein.
Den ganzen Rückweg schwiegen sie. Ihre Schritte hallten in den unzähligen Kurven.
Als sie wieder im Wohnzimmer von Alphira standen, sagte Anna reserviert: „Ich gehe in die Küche und mache uns schnell etwas zu essen.“
Während des ganzen Abends sagte sie nicht viel, nur dass Ian wieder in ihrem Zimmer oben schlafen sollte. Sie begleitete ihn nach oben, wünschte ihm eine gute Nacht und schloss die Tür hinter sich dreifach ab. Sie ging wieder nach unten und fing an, den Tisch aufzuräumen und das Geschirr zu spülen. Morgen ist ein anderer Tag. Und er wird besser als heute. Ganz sicher. Alles hat seine Zeit. Das war einfach zu viel für ihn. Er sieht es alles anders. Er kennt doch die Oberwelt gar nicht wirklich. Es ist ihm alles zu neu. Im Grunde ist es kein Wunder, dass er so reagiert. Menschen, die sich für vernünftig halten, glauben gar nicht an solche Geschichten. Es ist normal, dass er damit nichts anzufangen weiß. Was habe ich denn eigentlich erwartet? Trotz all dem Verständnis, das sie sich einzureden versuchte, war ihr schwer ums Herz. Sie stellte das saubere Geschirr in den Schrank und hängte die Küchentücher beim Ofen zum Trocknen auf. Auf dem Weg ins Wohnzimmer hielt sie am Fenster an und sah in das dunkle Grau hinaus. Der Regen trommelte aufdringlich mit seinen kräftigen Fingern einen tristen Marsch. Als ob er den Einzug von den perversen Kreaturen aus der Unterwelt begleitet . Sie seufzte. Ich kann es einfach nicht glauben, dass man sich so verlieren kann. Dann ging sie ins
Weitere Kostenlose Bücher