Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
fürchten.“
Mittlerweile waren alle Drachen auf der Wiese angelangt. Einige stellten sich vor dem Feuer nebeneinander, Flügen an Flügel. Was für ein Bild! Anna konnte ihren erstaunten Blick kaum von der Reihe der riesigen stolzen Wesen abwenden. Jedem Drachen gegenüber stand jeweils ein Junge oder ein Mädchen. Sie erschienen so klein im Vergleich zu diesen imposanten Geschöpfen, die bläulich silbern, der eine heller, der andere dunkler, schimmerten. Der am höchsten gewachsene Junge reichte gerade noch bis zum Knie eines erwachsenen Drachens. Plötzlich erklang ein schrilles Pfeifen und der erste Feuerschwall erreichte das ihm gegenüberstehende Kind. Dem folgten alle anderen. Die Jugendlichen standen gerade da und blickten furchtlos ins anrollende Inferno.
Eine Zeit lang war nur das blaue Feuer, das zwischen den Kindern und den Drachen loderte, sichtbar, dann erlosch es mit einem Schlag, wie auf ein Kommando. Die Jugendlichen standen still und lächelten beklommen. Auf einmal ging es los. Wie von einer unsichtbaren Kraft erfasst, beugten sie sich nach vorne. Ihre Beine und Arme veränderten ihre ursprüngliche Form. Sie wurden zusehends länger und kräftiger. Die Kleider platzten. Aus den Fetzen lugten stämmige, von glänzenden Schuppen bedeckte Drachenbeine hervor. Die Füße verwandelten sich in mächtige Dreifingerklauen. Die Arme wurden so lang, dass sie den Boden streiften. Dicker, lederartiger Stoff wuchs daraus und flatterte im Wind. Noch einige Sekunden und sie wurden zu beachtlichen Schwingen. Der menschliche Kopf wurde gleichzeitig größer, flacher, die Kieferpartien schwerer, bestückt mit Reihen von scharfen Zähnen. Der Hals zog sich in die Länge und glänzte mit harten Schuppen. Der Spektakel dauerte noch eine Weile und schließlich standen junge Drachen anstelle von den kichernden Jugendlichen. Kleiner als die Erwachsenen, ihre Panzer hell, beinah perlmuttweiß, schlugen sie unbeholfen mit den Flügeln, verlagerten ihr Gewicht unsicher von einer Tatze auf die andere und reckten die Hälse.
Der führende Drache und nach ihm die anderen Erwachsenen drehten sich um und liefen zum hinteren Ende der Wiese. Dort nahmen sie einen kurzen Anlauf, stießen sich vom Boden ab und stiegen in die kühle Luft. Die Kleinen folgten den Großen. Nach einigen Versuchen konnten sie alle fliegen. Im dunkelblauen Himmel, gesprenkelt von unzähligen Sternen, fingen sie im milchigen Vollmondschein ihren ersten Drachentanz an.
Das Bild löste sich auf.
Ian starrte immer noch auf die Wand, als ob er die Geschehnisse dieser Nacht noch weiter verfolgen wollte.
Anna und Scharta wechselten bedeutungsvolle Blicke.
Nach einer Weile schüttelte er kräftig den Kopf und sah etwas beklommen um sich.
Die junge Frau saß auf einem der Ringe der Schlange und musterte ihn eingehend.
Er lächelte verlegen. „Das war aber eine seltsame Reise.“
„Wie auch immer du sie bewertest“, sagte die Schlange und richtete ihre Telleraugen auf ihn, „eine Tatsache bleibt eben eine Tatsache.“
„Was meinst du? Wo war es überhaupt?“
„Es war eine Reise in die Vergangenheit der Oberwelt“, erklärte Scharta. „In die guten alten Zeiten, als es die Drachen dort noch gab.“
„Als es die Drachen noch gab?“ Ian schluckte, sah die beiden verwirrt an.
Eine gewisse Erwartung in ihren Blicken war kaum zu übersehen.
„Ist es euer Ernst?“, fragte er schließlich.
„Absolut“, nickte die Schlange. „Du bist hier in der Anderen Welt, vergiss es nicht. Die Drachen und andere Gestalten, die in der Menschenwelt oft als Fabelwesen bezeichnet werden, hatten hier seit Langem ihr zu Hause.“
„Ich muss mich an den Gedanken wohl erst gewöhnen. Was ist passiert?“
„Eine lange Geschichte“, antwortete die Hüterin des Wissens ausweichend und blickte in die bläulichen Feuerzungen der Fackeln. „Es ist schon etwas her. Ein Unglück, so zu sagen.“
„Ein Unglück“, nickte er und sah sie fragend an.
„In der Tat. Vor allem, wenn man bedenkt, dass es keinen davon hier gelassen hatte. Dabei galten die Drachen als das größte Volk in der Oberwelt. Kinderreiche Familien waren keine Seltenheit und das über recht lange Zeit hinweg.“
„Und wie ging es weiter?“ Er blickte abwechselnd von Anna zur Schlange und zurück. Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
„Noch lange danach glaubte keiner, dass jemand aus dem Drachenvolk es überlebt hatte. Der Oberwelt ging es danach immer bescheidener. Es wurde
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