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Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Titel: Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Neblin
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stellen?“
    Reflexartig antwortete ich: „Selbstverständlich. Eine Partnerschaft in dieser Kanzlei ist seit Langem mein Traum.“
    „Na, sehen Sie. Dann leben Sie diesen Traum! Nur weil Jack versagt hat, bedeutet das nicht, dass auch Sie versagen werden. Sehen Sie mich an, mein Junge. In drei Jahren werde ich achtzig Jahre alt. Glauben Sie, ich dächte über den Ruhestand nach? Nein! Soweit ist es noch nicht. Haben Sie Zutrauen zu den eigenen Fähigkeiten. Beweisen Sie sich und der Welt, dass Sie besser sind, dass Sie der Beste sind. Denn darum geht es doch auch. Es geht um Geld, Macht, Einfluss. Natürlich. Aber auch um Status, Anerkennung, Bedeutsamkeit, das Gefühl besser, größer, wertvoller zu sein, als der Nebenmann. Warum sonst stellen Hochleistungssportler Rekorde auf, warum werden Kriege geführt und Siege errungen, warum werden Entdeckungen und Erfindungen gemacht, Unternehmen gegründet? Arbeit, Schweiß und Tränen: Quelle des Fortschritts und der Zivilisation, Grundlage der Gesellschaft.
    Als ich kürzlich erwähnte, Sie könnten vielleicht eines Tages meinen Platz einnehmen, waren das keine leeren Worte. Was dazu notwendig ist, besitzen Sie. Nutzen Sie Ihre Talente!
    Sehen Sie das Bild an der Wand?“
    Wie hätte man diesen riesigen alten Schinken übersehen können. Ein Ölgemälde eines niederländischen Meisters in einem schweren vergoldeten Rahmen. Jack hatte mir einmal erzählt, Hawthorne bekäme jedes Jahr mehrere Anfragen von Sammlungen in der ganzen Welt, die es kaufen wollten. Doch trotz der astronomischen Gebote wollte er sich nicht davon trennen. Es war ein Stillleben. Eine Komposition aus faulendem Obst, einem kopfüber an einem Haken hängenden toten Fasanen, einem menschlichen Schädel, einem umgestoßenen Weinpokal und einem angebrochenen Laib Brot, aus dem Maden hervorquollen. Wann immer ich es betrachtete, fühlte ich mich unwohl. Wie Hawthorne mit diesem Anblick leben konnte, war mir seit meinem ersten Besuch in diesem Raum schleierhaft.
    „Es ist … beeindruckend“, antwortete ich um eine wohlmeinende Bemerkung bemüht.
    „Das ist es zweifellos. Wissen Sie, warum ich es hier ausstelle?“
    Vermutlich um Besucher einzuschüchtern, mutmaßte ich, sagte aber: „Weil es außergewöhnlich kostbar ist?“
    „Es ist kostbar, aber das ist nicht der Grund. Zu der Sammlung meiner Vorfahren gehören andere Gemälde, die zum Teil höher bewertet werden. Nein, dieses Gemälde erinnert mich stets daran, dass das Leben vergänglich ist – memento mori – vanitas mundi. Also muss man es an jeden einzelnen Tag in seiner ganzen Fülle auskosten, es rücksichtslos auspressen, wie eine überreife Frucht und sich, wo immer man kann, an seinem süßen Nektar berauschen. Doch der süßeste Nektar hat selbstverständlich den höchsten Preis. Nur wenige können ihn genießen. Er ist der Trunk der Götter. Beherzigen Sie das, Ethan, stellen Sie sich der Herausforderung, schwingen Sie sich auf und Sie werden am Ende Ihrer Tage feststellen, dass Sie Ihr Leben in einer Sphäre gelebt haben, zu der andere nur ehrfurchtsvoll aufblicken können.“

47.      Kapitel

 
 
    Als ich in mein Büro zurückkehrte, war Jacks Tod schon beinahe vergessen. Hawthorne hatte mich gepackt. Bei meiner Ehre, bei meinem Ehrgeiz. Er konnte Menschen begeistern, mitreißen und für seine Sache gewinnen. Ich selbst hatte eine ähnliche Wirkung auf viele Menschen, doch nicht in demselben Maße. Er war gleichsam eine ausgereiftere Version von mir.
    Hätte ein anderer als Hawthorne diese kleine Rede gehalten, hätte sie mich nicht derartig beeindruckt. Ich hätte vielleicht Einwände erhoben, etwa gefragt, ob meine Flügel nicht schmelzen würden, wenn ich bei meinem weiteren Aufstieg in die Spähren der Olympier der Sonne zu nahe käme. Doch so hatte ich schon ein neues Ziel vor Augen: Bisher hatte ich lediglich Partner werden wollen. Nun sah ich mich als Vorsitzender am großen Konferenztisch sitzen. Primus inter pares. Wenn ich es tatsächlich schaffen könnte, in Hawthornes Fußstapfen zu treten, würde ich eine reale Macht in der Geschäftswelt der Vereinigten Staaten darstellen. Unsere Kanzlei war zwar nicht so groß wie manche, verfügte aber gleichwohl über beste Beziehungen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Hawthorne saß in der Mitte eines weiten Netzwerkes und hielt die Fäden in eisernem Griff. Wehe dem Insekt, das diesem Netz zu nahe kam und sich darin verfing. Ganz nebenbei würde ich das

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