Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
zu meiner Haut fraß.
Ich machte die paar Schritte bis zur Tür. Noch unter dem Vordach prasselte der Regen gegen meinen Rücken, während ich hastig mit dem Haustürschlüssel das Schloss suchte und es in der Eile mehrmals verfehlte. Gegen den Sturm drückte ich die Tür hinter mir zu und stand triefend in der leeren Eingangshalle.
Nachdem ich, wohl von unbewusstem Misstrauen in die Fähigkeiten McCandles getrieben, mehrfach nach Annabell gerufen und das Haus nach ihr abgesucht hatte, verharrte ich ratlos im Wohnzimmer.
Ich rief bei McCandle an, doch Annabell war immer noch nicht aufgetaucht.
Verdammt, wo kann sie nur stecken?
Gedankenverloren trat ich an die großen Fenster und starrte hinaus in das Unwetter. Den Weg zu unserem Aussichtsplateau konnte man nur erahnen, so stark verminderten das trübe Licht und die zu Boden stürzenden Wassermassen die Sicht.
Was könnte ich tun, wo könnte ich suchen? Am besten würde ich in die Stadt fahren. Den Weg entlang, den Annabell mit dem Rad nehmen würde. Doch wer würde bei dem Wetter Radfahren?
Ich wandte mich ab und ging in Richtung Eingangshalle, als eine Stimme sich lautstark zu Wort meldete: War es eine unbewusste Wahrnehmung? Hatte ich nicht soeben …
Ich stürzte zurück ans Fenster und starrte in den Regen.
Da hinten an der Böschung. Auf dem Weg zum Plateau.
Ich kniff die Augen zusammen in dem Versuch, sie auf die Stelle zu fokussieren.
Ja, da lag etwas. Etwas Farbiges, das weder Rasen noch Buschwerk sein konnte.
Ich stob hinaus. Über die Terrasse in den Guss hinein. Der Sturm peitschte mir das Wasser ins Gesicht. Er kam nun vom Meer und es fiel schwer, dagegen anzukämpfen. Doch so gut es ging, rannte ich über den glitschigen Rasen auf die kleine Böschung zu und da sah ich es:
Annabell!
War sie hier gewesen?
Ein buntes Schaltuch lag einsam und triefend nass zu meinen Füßen.
Vielleicht war es Zufall. Vielleicht hatte der Sturm es von Wer-weiß-wo hierher getragen. Doch vielleicht war Annabell zum Strand gegangen und hatte es auf dem Weg verloren. Aber sie konnte doch unmöglich zum Strand gehen, wenn eine Hurrikan-Warnung durch die Medien ging. Das wäre Irrsinn.
Ich konnte diese Möglichkeit indes nicht ausschließen und wollte nichts unversucht lassen. Also rannte ich die Böschung hoch, nahm den Pfad durch die Büsche und Sträucher und fand mich auf dem Aussichtsplateau.
Was ich hier vorfand, verschlug mir den Atem. Der Leviathan, der – mittlerweile hellwach – seinen todbringenden Odem gen Himmel spie, hatte mich gerufen, um mir seine Beute zu präsentieren.
50. Kapitel
Die Cape Cod Bay bot einen Anblick, der mir den Atem stocken ließ. Wer sie je an einem der herrlichen Sommertage gesehen hat, die ich hier verbracht hatte, macht sich kein Bild von der Gewalt eines herannahenden Hurrikans.
Finstere Wolkengebirge türmten sich bedrohlich über der schwarzen See. Riesige Wogen bäumten sich auf, sammelten Kraft, um alles in ihrem Weg zu zermalmen, und schlugen tosend gegen die Felsen in der Tiefe. Mit jeder Welle, die sich an den scharfkantigen Klippen brach, spritzte die graue Gischt hoch auf, wurde vom Sturm erfasst, der hier noch wesentlich stärker zu sein schien, als in dem eingefriedeten Garten hinter mir, und in alle Richtungen zerstreut. Mit solcher Wucht wurde der Regen in mein Gesicht gepeitscht, dass die Tropfen auf der Haut brannten, obgleich die eisige Nässe, die der Wind erzeugte, und meine Furcht mich frösteln ließen.
Nur mit Mühe gelang es mir, die Balance zu halten und nicht zu straucheln, als ich mich mit zitternden Knien der Bank näherte, auf der inmitten dieses Unwetters Annabell hockte – regungslos, den Blick zur See gerichtet.
„Annabell, um Himmels willen, was machst Du hier?“
Sie reagierte nicht, sondern starrte unbewegt hinaus auf das Meer. Ihre rechte Hand klammerte sich an die Lehne der Bank, ihre Linke an die Kante der Sitzfläche. Weißlich traten Ihre Handknöchel aus der von Nässe geröteten Haut hervor.
Während ich mich, ebenfalls an der Bank Halt suchend, vor sie hinhockte, versuchte ich es erneut:
„Annabell, Liebling! Was ist mit Dir?“
Ihr Gesicht zeigte zunächst keine Regung. Doch dann murmelte sie etwas. Ich konnte es wegen des Sturms nicht verstehen, aber es war immerhin ein Zeichen, dass sie mich bemerkt hatte. Es schien als füllten sich ihre Augen mit Tränen, doch es mochte ebenso der Regen sein, der von unseren Gesichtern troff.
Ich zögerte nicht
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