Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
mich für einen Augenblick allein lassen würden.“
Ich ging zur Fensterseite meines Büros und sah hinaus, sah hinunter, die vielen Meter bis zum Boden. Ein tiefer Fall wäre das.
Eine ganze Weile stand ich einfach so da. Was hatte Jack zu diesem Schritt getrieben, fragte ich mich. Die Sache mit DeVere? Der Verlust der Partnerschaft? Er hatte getrunken. Schon länger. Hatte er private Probleme gehabt?
Mir fiel auf, dass ich eigentlich nicht sehr viel über Jacks Privatleben wusste. Jack war mir hier in der Kanzlei Mentor und Förderer gewesen, hatte mich in der praktischen Ausübung des Berufs ausgebildet, wenn man so wollte. Wir hatten oft lange über die verschiedensten Projekte diskutiert, über das Für und Wider rechtlicher Streifragen, über rechtliche Gestaltungen. Ich hatte ihm bei seiner schriftstellerischen Tätigkeit zugearbeitet. Jack hatte mich nicht uneigennützig unterstützt, ganz sicher nicht. Er konnte die Früchte meiner Arbeit teuer an den Mann bringen. Aber ich hatte viel von ihm lernen können.
Doch den privaten Jack kannte ich nicht. Unausgesprochen war ich immer davon ausgegangen, dass es nicht viel von einem privaten Jack gab. Er verbrachte den größten Teil seines Lebens im Büro. Da war nicht viel Zeit für Privates. Gut, hier und da hatte ich außerberufliche Aspekte mitbekommen. Er war geschieden. Ein Rosenkrieg. Kein Kontakt mehr zu den Kindern, deren Kinderfotos noch auf seinem Schreibtisch gestanden hatten, nur monatliche Unterhaltszahlungen. Hier und da eine Affäre, zu Hawthornes Missfallen auch schon einmal mit hübschen jungen Angestellten der Kanzlei. Aber nichts von Dauer. Er war selbstverständlich Mitglied im Countryclub, doch zu einer Runde Golf oder einem Tennismatch kam er so gut wie nie.
Und ich? Ich hatte ihn aus dem Konferenzraum entfernen lassen. Ich hatte mich gefreut. Über die Chance. Und sie genutzt. Ein Platz an der Hohen Tafel wurde frei und ich war bereit, ihn einzunehmen. Nicht ein einziges Mal hatte ich erwogen, mich nach Jacks Befinden zu erkundigen. Ich hatte viel zu tun gehabt. Dann kam South Port. Und wenn ich ehrlich war: Es war mir schlicht gleichgültig gewesen.
Nun war es zu spät. Jack existierte nicht mehr.
Ich ging hinaus zu Harriet und zu Margery, die sich bei meinem Erscheinen die Tränen abtupfte und die Nase schnäuzte. Offenbar hatte sie tatsächlich etwas für ihren früheren Chef übrig gehabt.
„Ach, Mr. Meyers. Es ist so traurig“, schluchzte sie. „Er war noch so jung. Er hätte noch so viel aus seinem Leben machen können.“
„Es tut mir sehr leid – auch für Sie Margery. Sie haben lange und gut für ihn gearbeitet. Jack war stets sehr zufrieden mit Ihnen.“
Ich war mir nicht sicher, ob das stimmte, aber was machte das schon. Meine Worte lösten erneutes Schluchzen aus.
„Er war ein guter Chef. Ich habe ihn gemocht. Wenn er sich doch nur hätte behandeln lassen.“
„Der Alkohol ist ein trügerischer Freund …“, stimmte ich ihr zu.
„Ich vermute, der Alkohol war nicht das Problem“, entgegnete sie. „Mr. Davis hat mir einmal anvertraut, dass er überlege, sich zur Ruhe zu setzen. Geld hatte er ja genug. Er fühle sich der beruflichen Belastung einfach nicht mehr gewachsen, war nervös, oft niedergeschlagen. ‚Margery’, hat er zu mir gesagt, ‚machen Sie sich mit dem Gedanken vertraut, dass Sie in absehbarer Zeit für jemand anderen arbeiten werden. Für Mr. Meyers, vielleicht. Ich werde alt. Ich weiß nicht, wie lange ich das Rad noch am Laufen halten kann.’ Aber als Mr. Hawthorne ihm gekündigt hat, wusste er anscheinend nicht mehr weiter. Er hat in Wahrheit nur für die Arbeit gelebt. Und die hat man ihm genommen.“
Ich war erstaunt. Nicht allein darüber, dass sie von der Kündigung wusste, sondern mehr noch, dass Jack sich ihr in dieser Art anvertraut hatte. Mir gegenüber hatte er den Ruhestand nie erwähnt. Auch nicht, dass er psychische Probleme gehabt hatte. Die Oberfläche hatte nicht so ausgesehen.
Vielleicht war der Alkohol zu Anfang Jacks Medizin gewesen. Ein Mittel gegen Druck, gegen Depression. Doch dann wurde er selbst zum Problem.
Der Vorfall mit DeVere, das Ende seiner beruflichen Laufbahn, das alles musste Jack schwer getroffen haben.
Aber Selbstmord? Dass er keinen anderen Ausweg gesehen hatte. Wie Margery schon sagte, Geld hatte er genug. Er hätte sich eine Jacht kaufen und um die Welt segeln können. Er hätte Orchideen züchten können oder ein Buch schreiben. Er hätte den
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