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Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Titel: Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Neblin
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länger, sondern löste ihren Griff von der Bank. Sie hatte die Hände so fest in das Holz gekrallt, dass ich jeden Finger einzeln aufnehmen musste. Sie waren eiskalt.
    Wie lange mochte sie schon hier gesessen haben?
    Ich schob meine Arme hinter ihren Rücken und unter ihre Knie und hob sie hoch.
    Wie leicht sie doch war. Zerbrechlich wie eine Porzellanpuppe lag sie in meinen Armen, als ich den Rückweg antrat.
    Mit Annabell auf den Armen war es noch wesentlich schwieriger, in dem Sturm die Balance zu halten. Auf der Böschung rutschte ich aus und konnte mich nur mit Mühe abfangen. Annabell hatte die Arme um meinen Hals gelegt und schmiegte sich an meine Brust. „Wenn es doch …“, hörte ich sie sagen, doch den Rest verschluckte der Sturm.
    Als wir schließlich beim Haus angelangt waren, stieß ich die Flügeltüren zum Wohnzimmer auf. Ein kraftvoller Schwall nasser Luft strömte mit uns hinein und wirbelte die Vorhänge derart durcheinander, dass sie an einer Seite aus ihrer Schiene gerissen wurden.
    Sanft setzte ich Annabell in einen der Sessel am Kamin und drückte die Türen zu. Vorläufig waren wir in Sicherheit, doch Bonnie, verärgert, dass wir ihr entkommen waren, warf sich gegen die Fenster, klapperte mit den Läden und heulte im Schornstein, als wolle sie uns aus unserem Versteck treiben.
    „Annabell, was hast Du nur da draußen gemacht? Du bist ganz durchgefroren.“
    Wieder hockte ich mich vor sie hin, nahm ihre kalten Hände und massierte sie.
    „Oh, Ethan. Du bist gekommen. Du bist wirklich da.“
    Sie zitterte.
    „Ja, ich bin da. Ich habe mir Sorgen um Dich gemacht und Dich gesucht.“
    Sie stand völlig neben sich. Ich konnte sie unmöglich allein lassen. Sie musste sich aufwärmen, und zwar bald. Ein heißes Bad wäre das Richtige.
    „Warte hier. Ich bin gleich wieder da.“
    Ich eilte nach oben und ließ lauwarmes Wasser in die Wanne, damit Annabell sich langsam an die Temperatur gewöhnen könnte. Dann ging ich zurück ins Wohnzimmer.
    „Wir müssen Dich erst einmal aus Deinen nassen Sachen holen.“
    Bereitwillig ließ sich Annabell von mir aus den Kleidern helfen, bis nur noch ihre Unterwäsche - von der Nässe fast durchsichtig – an ihrem Leib klebte. In meinen Träumen der vergangenen Tage hatte ich es nicht vermocht, mir auszumalen, wie schön sie war – selbst in ihrem gegenwärtigen Zustand. Trotz meiner Sorge um ihr Wohlergehen musste ich mich zusammennehmen, um sie nicht anzustarren.
    Mit Leichtigkeit hob ich Annabell hoch und trug sie die Treppe hinauf ins Bad. Dort half ich ihr, in die zur Hälfte gefüllte Badewanne zu steigen. Das Wasser musste ihr siedend heiß vorkommen, denn sie stieg nur zögerlich hinein. Als sie sich an die Temperatur gewöhnt hatte, ließ ich nach und nach wärmeres Wasser dazu, bis die Wanne voll war.
    „Bleib schön hier liegen“, ermahnte ich sie unnötigerweise. „Ich bin gleich wieder da. Falls Dir schwindelig wird, ruf mich und versuch den Stöpsel herauszuziehen.“
    Sie nickte teilnahmslos und ich riskierte es, sie ein paar Minuten allein zu lassen. Zurück im Wohnzimmer entfachte ich ein Feuer im Kamin, das sich in Windeseile knisternd in das Holz fraß, das dort während des Sommers gelagert hatte. Hell loderten die Flammen auf und warfen ein warmes Licht in den von Bonnie verfinsterten Raum. Anschließend ging ich in die Küche, bereitete Tee zu und trug eine Kanne, Tassen und Gebäck ins Wohnzimmer – ganz wie damals, an dem Tag, als ich Annabell zum ersten Mal gesehen hatte und McCandle mich im Haus überrascht hatte.
    McCandle! Natürlich. Ich musste ihm unbedingt Bescheid geben, dass ich Annabell gefunden hatte.
    Ich erreichte ihn zu Hause. In knappen Worten setzte ich ihn in Kenntnis. Die näheren Umstände verheimlichte ich. Sie hätten ihn nur unnötig aufgeregt. Zudem bestand die Gefahr, dass er vorbei käme und auch, wenn ich es mir nur ungern eingestand, wollte ich jede Minute auskosten, die ich mit Annabell allein verbringen konnte.
    „Es geht Ihr gut, Reverend. Machen Sie sich keine Gedanken. Ich werde die Nacht hier verbringen. Es ist besser, wenn Sie bei diesem Wetter nicht herkommen. Wir werden uns morgen früh bei Ihnen melden.“
    Während ich noch einige unvermeidliche Minuten lang mit McCandle sprach, kam Annabell die Treppe herunter, in einen Frotteemantel gehüllt, ein Handtuch um die feuchten Haare geschlungen.
    „Wir melden uns, Reverend. Bis Morgen“, beendete ich das Gespräch.
    „Oh nein, der Reverend“,

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