Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
besann sich Annabell, „er wollte heute herkommen und ich war nicht da. Er wird sich Sorgen gemacht haben.“
„Ich habe ihm versichert, dass es Dir gut geht. Komm, setz Dich.“ Ich deutete auf das Sofa. „Ich habe uns einen Tee gemacht.“
Annabell nahm Platz und ich füllte unsere Tassen.
„Wie wunderbar.“
Sie nahm ihre Tasse mit der dampfenden Flüssigkeit in beide Hände und wärmte sie daran. Ich legte ihr eine Decke um die Schultern und setzte mich neben sie.
„Geht es Dir wieder besser?“ Sie sah immer noch blass und erschöpft aus.
„Oh, ja. Es ist wunderbar warm hier. Und Du bist da.“
Ihr Blick ruhte auf mir. Kein Vorwurf, dass ich sie verlassen hatte, lag darin, nur Wertschätzung und Freude. Ein Gefühl breitete sich in mir aus, das wärmer war, als der Tee und das Kaminfeuer. Eine Wärme, die von innen kam und mich ganz erfüllte.
„Und ich bleibe da. Wenigstens bis morgen früh.“
Ich nahm einen Schluck und ließ ihn im Mund zergehen, während ich mir darüber klar zu werden versuchte, wie es weiter gehen würde.
Annabells Miene verdunkelte sich.
„Und danach? Gehst Du zurück nach Boston?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
Wie gern wollte ich hier bei ihr bleiben . Doch die Argumente, die dagegen sprachen, waren jetzt nicht weniger stichhaltig als bei unserer letzten Begegnung.
„Ethan, ich …“.
Sie suchte nach Worten, nach dem richtigen Anfang.
„Wenn Du … Wenn Du wieder gehst, kann ich das verstehen. Ich meine. Du hast ein aufregendes Leben in Boston, einen tollen Beruf, tolle Freunde. Was solltest Du hier in South Port? Ich habe sehr viel nachgedacht während der Zeit, als Du nicht da warst und ich glaube, Du … Du hast vielleicht recht … Vielleicht haben wir keine Zukunft. Sicher, ich habe Dich vermisst, das kann ich nicht abstreiten, aber ich möchte, dass Du weißt, dass es mir gut geht, wenn Du gehst, dass ich damit zu Recht komme.“
Wie tapfer sie war. Ihre Augen wurden feucht, während sie sprach, doch sie schaffte es, die Tränen zurückzuhalten. Wie schwer ihr das fiel, war mehr als deutlich.
Annabell versetzte mich einmal mehr in Erstaunen. Sie war noch keine achtzehn Jahre alt und doch war sie erwachsen. Sie war bereit, zu verzichten, auch wenn es ihr das Herz brach. Ich hatte für sie das Gleiche tun wollen.
Mit einem Mal war mir alles klar. Die Bruchstücke der Gedanken, die mir in den vergangenen Tagen durch den Kopf gegangen waren, setzten sich zu einem deutlichen Bild zusammen.
„Und deswegen sitzt Du bei einem Hurrikan da draußen und starrst auf den Ozean? Besser Du wirst keine Anwältin. Du bist einfach keine sehr überzeugende Lügnerin.
Und Du irrst Dich: Mein Leben in Boston ist nicht so toll, wie ich es immer dargestellt habe, wie ich es vielleicht selbst gesehen habe oder sehen wollte. Die Wahrheit ist: Ich weiß nicht mehr, was ich von meinem Leben halten soll.
Meine Arbeit? Ich helfe Leuten, ihr Geld vor den Staaten dieser Welt in Sicherheit zu bringen. Natürlich ist das eine wichtige Aufgabe. Wenn es niemanden gäbe, der sie erledigt, wären die Menschen dem Staat hilflos ausgeliefert und das war und ist zu allen Zeiten furchtbar. Sie wüssten nicht, wo die Steuerverwaltung sich an die Gesetze hält und wo nicht. Sie wüssten nicht, wie sie sich wehren können. Wo man zusehen muss, wie öffentliche Gelder verschwendet werden oder der Staat sich aufbläht und mehr und mehr Aufgaben an sich reißt, ist es unerträglich dem Gemeinwesen mehr zu Verfügung zu stellen, als das Gesetz verlangt. Das herzugeben, was das Gesetz verlangt, ist mitunter schlimm genug. Aber es geht letztendlich doch nur um Geld. Das Geld anderer Leute. Reicher Leute in meinem Fall, die ohnehin genug davon haben. Leute, die auf unsere Hilfe angewiesen wären, könnten sich unsere Honorare niemals leisten. Lohnt es sich, für dieses Geld zu kämpfen? Lohnt es sich, dafür zu kämpfen, wenn dadurch ein Anteil daran für mich abfällt?
Mein Partner Jack, der Mann für den ich in der Kanzlei gearbeitet habe, hat sich das Leben genommen. Warum hat er das getan? Hat die Arbeit ihn dazu getrieben? Er war zuletzt im Ruhestand. Hat ihm die Arbeit gefehlt?
Und meine Freunde? Gut, wir verbringen die Zeit miteinander, versuchen, etwas zu finden, das uns unterhält, das uns die Langeweile vertreibt oder bei dem wir abschalten können, uns ablenken können. Aber sind es Freunde, wie Du sie hier hast?
Das wirklich Erstaunliche ist: Bevor ich
Weitere Kostenlose Bücher