Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
Wir unterbrachen unser Training und er erklärte mir, kaum außer Atem, dass er sich einen Morgenlauf seit Jahren zur Gewohnheit gemacht hatte.
Gegen Sieben frühstückten wir auf der Terrasse – allein, denn der Reverend hatte meine Einladung ausgeschlagen. Das Lied der Vögel, der Duft von Tee, Frühstücksspeck und Toast, Croissants mit Brandy Butter, neben mir Annabell – wie konnte ein Arbeitstag besser beginnen?
Doch dann hieß es Abschied nehmen. Für einen ganzen Tag lang. Den ersten der neuen Zeitrechnung, an dem wir nicht zusammen sein konnten.
Annabell wollte den Tag mit Cathy, Jen und anderen Mädchen aus ihrer Stufe verbringen. Ich hatte einen Gerichtstermin, in dem ich gemeinsam mit Nate Dornkron, einem der Partner, einen wichtigen Mandanten gegen die Vereinigten Staaten verteidigen würde, einen Gerichtstermin, der für 14.00 Uhr terminiert war und den ich am Wochenende hätte vorbereiten müssen. Das Wochenende aber hatte ich in South Port mit Annabell verbracht. Das bedeutete Arbeit. Viel Arbeit und wenig Zeit. Doch die Sorge darüber erschien mir nebensächlich, als ich Annabell einen Abschiedskuss gab, mich ins Auto setzte und nach Boston aufbrach.
Wie üblich brach ich jegliche Regeln des guten Verkehrs und schaffte es, nach 48 Minuten mein Büro zu betreten, alle Vormittagstermine abzusagen und mich in die Prozessvorbereitung zu stürzen. Der Gerichtstermin verlief gleichwohl katastrophal, zumindest der Teil der Verhandlung, für den ich zuständig war. Dornkron schäumte vor Wut und hatte sich immer noch nicht beruhigt, als die Limousine uns wieder in der Clarendon Street absetzte. Er kündigte eine Unterredung mit Hawthorne an und drohte, alles in seiner Macht stehende zu tun, um meine Berufung zum Partner zu vereiteln.
Gegen 22.30 Uhr traf ich frustriert und einigermaßen erschöpft in South Port ein. Annabell hatte auf mich gewartet und leistete mir Gesellschaft, während ich gierig den Auflauf aus Tomaten, Thunfisch, Zwiebeln und Schafskäse verschlang, den sie zubereitet hatte. Nachdem ich so einen Hunger gestillt hatte, fiel es mir wiederum schwer, meine übrigen eher animalischen Gelüste mit der gebotenen Willensstärke im Zaum zu halten und zum Dessert nicht auch Annabell zu verschlingen. Sollte man nicht davon ausgehen, dass die Befriedigung eines Triebs den anderen besänftigt? Es schien mir eher so, dass der Fall einer einzigen Karte das gesamte Haus in die Gefahr brachte, zusammenzustürzen. Einem fragilen Kunstwerk glich sie mir, die Erhabenheit des menschlichen Tieres. Doch Annabell und ich blieben standhaft und schliefen in keuscher Innigkeit ein.
Die nächsten Tage zogen dahin: Die Zeit in South Port war himmlisch, besonders am Wochenende. Ich erlebte wunderbare Stunden mit Annabell, mit Cathy, die sich immer noch vergeblich Hoffnungen auf meine Zuneigung machte, und den anderen aus Annabells Kreis. Ja sogar mit dem Richter und dem Reverend verbrachten wir einen angenehmen Abend bei einem Restaurantbesuch im Hafen, bei dem mehrere Hummer ihr Leben ließen.
In South Port waren wir unter Freunden. Die Gespräche waren nicht dominiert von Investmentfragen, den neuesten Designerprodukten, Golf oder den anderen Themen, die in Boston zu den üblichen Belanglosigkeiten gehörten. Annabell tat mir gut. Obwohl ich ja nun selbst nicht wirklich alt zu nennen war, fühlte ich mich jung und ungeheuer lebendig in ihrer Gegenwart.
Die Tage in der Kanzlei standen im krassen Gegensatz dazu: Hatte ich früher meinen Beruf mit vollem Engagement ausgeübt und keine Gelegenheit ausgelassen, mit Fleiß und Überstunden meine Arbeitsergebnisse von gut auf excellent zu steigern, fehlte mir nun die Zeit. Ich steckte in einem Dilemma. Auf der einen Seite hatte ich stets herausragende Arbeit geleistet und das erwarteten ich und alle anderen in der Kanzlei auch weiterhin von mir. Auf der anderen Seite hatte ich mittlerweile Facetten des Lebens kennengelernt, die mir jede Minute am Schreibtisch als fragwürdig erscheinen ließen.
Der ständige Zeitdruck führte zu einem gesteigerten Stressniveau. Der Stress führte zu Fehlern. Die Fehler führten zu Frustration und die Frustration führte dazu, dass ich die Zeit in South Port nur umso mehr schätzte, ja mich danach verzehrte und mich immer wieder dabei ertappte, dass ich im Büro die Augen von der Sache nahm, mit der ich gerade beschäftigt war und mich zu Annabell an unseren kleinen Strand träumte.
Kurzum: Ich war nicht mehr der, der ich
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