Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
gewesen war und es gelang mir noch nicht recht, mein neues Leben mit meinem alten Lebensentwurf in Einklang zu bringen. Doch wer den guten Wein genießt, darf den schlechten nicht verschmähen, wie es heißt. Ich musste mich irgendwie mit der neuen Situation arrangieren, ohne dass meine Partnerschaft in unerreichbare Ferne rückte. Denn eines war klar: Auf Annabell konnte und wollte ich nicht verzichten.
Doch dann wurde der Husten schlimmer und alles änderte sich.
54. Kapitel
Seit meiner Rückkehr nach South Port hatte es angefangen. Ein kleiner Huster hier und da, der sich ganz leise und unauffällig in ein Gespräch mischte oder sich bemerkbar machte, wenn Annabell sich körperlich anstrengte. Etwa bei einem Spaziergang oder beim Treppensteigen: ein zartes, subtiles Husten, das weder mir noch Annabell auffiel und mir erst rückschauend deutlich wurde.
Mit der Zeit wurde es schlimmer. Der kleine Huster wuchs heran. Er schlich sich unauffällig an und überwältigte Annabell von hinten, schüttelte sie durch in kleinen Anfällen. Nun war Annabell kein Mensch, der dazu neigte, wegen jedes Wehwehchens einen Arzt aufzusuchen, und ich war das ebenso wenig. Aber ich bestand darauf, dass sie in die Stadt führe und sich ein Medikament besorgte, damit die Erkältung kuriert wäre, wenn die Schule Ende August wieder anfing. Das muss etwa zwei Wochen nach dem Hurrikan gewesen sein.
Es war ja kein Wunder, dass sie erkältet war. Wer im peripheren Sturm und Regenguss eines Hurrikans stundenlang im Freien auf einer Bank sitzt und vollkommen auskühlt, darf sich nicht wundern, wenn er die Folgen zu spüren bekommt. Ich unterließ es allerdings tunlichst, diesen Gedankengang auszusprechen, geschweige denn, Annabell dafür zu tadeln. Denn letztendlich schrieb ich die Schuld an ihrer Verfassung mir selbst zu. Ich war es immerhin gewesen, der sie verlassen hatte.
Annabell nahm also Hustenlöser und dazu noch ein anderes schleimlösendes Mittel, damit sich die Erkältung nicht in die Nasenneben- und Stirnhöhlen verlagerte. Ich selbst hatte glücklicherweise nicht viel Last mit Erkältungen, aber wenn es mich einmal erwischte, war es zumeist so, dass es in den Ohren begann, dann auf Nase und Hals übergriff und erst am Schluss, wenn überhaupt, in einem Husten mündete. Annabell dagegen hatte schon im Kindesalter vor allem mit Husten zu kämpfen gehabt. Das war der Grund, weswegen wir der ganzen Angelegenheit auch keine besondere Bedeutung beimaßen.
Ein fataler Irrtum.
Am dritten Wochenende nach meiner Rückkehr – es ist mir noch so präsent, dass ich es lebendig vor mir sehe – stand ich am Geländer des Balkons an unserem Schlafzimmer und begrüßte den neuen Tag. Es war noch recht früh. Die in ihrem jahreszeitlichen Abstieg begriffene Augustsonne stand niedrig am Himmel und ihre zaghaften Strahlen verwandelten den Morgentau in geisterhafte Dunstschwaden, die dem Garten einen unwirklichen Zauber verliehen. Durch dieses verwunschene Reich wandelte meine kleine Fee in einem Nachthemdchen aus cremefarbener Seide, das Margery für mich in Boston erstanden hatte. Ihr Haar wallte offen um ihre Schultern. In der einen Hand trug sie einen kleinen geflochtenen Korb, in der anderen eine Rosenschere, mit der sie einige der jungen Triebe auf dem Gipfelpunkt ihrer Blüte abschnitt, um einen Strauß für unseren Frühstückstisch zusammenzustellen. Ich hörte sie leise singen und all die Amseln, Rotkehlchen, Meisen und was sonst noch an Vögeln in unserem Garten wohnte, hielten inne in ihrem Morgenlied und lauschten voller Andacht und staunten über die Schönheit, die da in ihrer Mitte weilte.
Ich besah mir diese Szenerie für eine Weile, denn Annabell hatte mich noch nicht bemerkt. Als sie zum Haus zurückkehrte, wunk ich ihr: „Guten Morgen, mein Herz. Du bist ja schon früh unterwegs. Ich habe Dich gar nicht hinausschleichen hören.“
Nun strahlte sie mich an und rief zu mir hinauf: „Guten Morgen, mein Schatz, ich …“
Doch sie bekam nicht genügend Luft, um den Satz zu beenden. Ihr zarter Körper wurde geschüttelt von einem solchen Anfall, dass sie Korb und Schere fallen ließ und in die Knie ging. Ich stürmte nach unten.
Als ich bei Annabell ankam, war sie dabei, all die frisch geschnittenen Rosen und anderen herrlichen Blumen einzusammeln, die aus dem Korb gefallen waren. Rückschauend muss ich mich fragen, ob es nicht eine einzige Verschwendung ist, wenn Perfektion so früh sterben
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