Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
Sorgen. Ich hatte das Gefühl unsere Gefühle füreinander müssten uns ins Gesicht geschrieben stehen und jeder könne in uns lesen wie in einem offenen Buch. Hinzu kam, dass der inzestuöse Aspekt unserer Beziehung trotz aller Späße auf mir lastete. Ich war mir nach wie vor sicher, dass ich Annabell nicht aufgeben konnte. Aber war das, was wir taten, richtig? Wo sollte das alles enden?
„Ich glaube, wir müssen es einfach darauf ankommen lassen“, antwortete ich nüchtern.
„Darauf ankommen lassen?“
„Wir tun einfach das, was wir auch vorher getan hätten. Heute ist Sonntag. Was tust Du – oder was tun wir – üblicherweise an einem Sonntag?“
„Wir besuchen den Gottesdienst.“
„Genau.“
„Meinst Du wirklich, wir sollten dort anfangen? In der Kirche?“
Der Gedanke schien ihr unbehaglich zu sein.
„Na, was wäre das für ein Gott, wenn er uns dafür bestraft, dass wir als Paar zu ihm kommen?“
Sie dachte einen Augenblick nach.
„Ja“, antwortete sie dann, „ich glaube Du hast recht. In einem anderen Punkt bin ich noch nicht sicher.“
„Und der wäre?“
„Ob Du kein völliger Versager bist, wenn es darum geht … Du weißt schon …“
Sie sah mich auffordernd an. Schnell sprang ich aus dem Bett.
„Ich glaube wirklich, wir sollten jetzt aufstehen.“
Zwei Stunden später besuchten wir gemeinsam den Gottesdienst, in dem der Reverend für die Verschonung vor dem Hurrikan dankte und die Gemeinde Loblieder auf die göttliche Vorsehung anstimmte. Ein Akt der Zeitverschwendung zweifelsohne. Wenn man schon von der Existenz der göttlichen Vorsehung ausging, musste man sich dann nicht fragen, warum Gott in einem ersten Schritt den Hurrikan überhaupt erst geschaffen hatte? War er unfähig, Hurrikans zu verhindern oder eine Welt ohne Hurrikans zu erschaffen oder war er schlicht böswillig? Doch da ich Annabells religiöse Einstellung respektierte, behielt ich diese Bemerkungen für mich.
Anschließend aßen wir mit McCandle und Onkel Charlton zu Mittag. Der Richter schimpfte über die Unzuverlässigkeit der Meteorologen, die Preissteigerungen in den Versicherungsprämien, die Hurrikans verursachten, und sein Dorschfilet, in dem sich zahlreiche tückische Gräten ihm zum Hohn und uns zur Erheiterung verborgen hielten. Der Reverend versuchte, ihn zu besänftigen, indem er noch einmal die barmherzige Intervention des Herrn rekapitulierte. Letztendlich war es aber wohl eher ein doppelter Gin Tonic, der Rutherford vergnüglichere Töne anstimmen ließ. Wenn er in der richtigen Stimmung war, konnte er tatsächlich amüsante Anekdoten zum Besten geben, denen sein trockener Humor eine spritzige Würze verlieh.
Annabell und mir gelang es, eine Fassade der Gleichmütigkeit zu bewahren und lediglich hier und da hinter dem Rücken der anderen einen schmachtenden Blick oder einen flüchtigen Kuss auszutauschen oder uns bei der Hand zu halten.
Insgesamt war dieses Versteckspiel unglücklicherweise sogar überaus anregend, wenn ich auch befürchtete, dass es auf Dauer zum Problem werden könnte, wenn wir nicht als Paar auftreten konnten.
Die Zeit der auferlegten Zurückhaltung führte jedenfalls dazu, dass wir uns, sobald wir die Eingangstüre hinter uns geschlossen hatten, leidenschaftlich küssten und es mir nur mit größter Willensstärke gelang, die Einhaltung der Blümchenfrist, wie ich sie im Stillen nannte, durchzusetzen. Die Stunden der Selbstbeherrschung wurden uns lang. Länger bereits als noch am Vortage. Wir genossen zwar auch an diesen Sonntag unsere Wiedervereinigung, aber ich war doch erleichtert, als wir am Abend gemeinsam einschliefen: Annabell in meinem Arm, Anthony, der Plüschbär, in ihrem.
53. Kapitel
Der Montagmorgen brachte die Qual der Trennung. Es sollte nicht die letzte sein.
Ich stand um sechs Uhr auf und versuchte, mein Morgentraining dadurch aufrechtzuerhalten, dass ich zu einer Joggingrunde aufbrach. John würde sich wundern, warum ich nicht mit ihm trainierte. Ich würde ihm über Margery eine Nachricht zukommen lassen.
Der Lauf durch die Natur war wunderbar erfrischend. Die salzige Luft, die vom Ozean herüber strömte, vermischte sich mit dem Dunst des jungen Morgentaus. Schon seit Langem war ich nicht mehr unter freiem Himmel gelaufen. Es war eine ganz neue Erfahrung, die ich gern zu wiederholen gedachte.
Erstaunt war ich, als ich auf halber Strecke dem Reverend zu begegnen. Ich hatte nicht vermutet, dass er in seinem Alter noch lief.
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