Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
uns? Ich sehe in Dir mehr als einen Bruder, ob das Gesetz etwas anderes sagt, oder nicht. Ist dann diese ‚Rollenzuordnung’ nicht sowieso dahin? Und wir haben uns erst vor weniger als einem Monat kennengelernt. Was für eine ‚Familienstruktur’ soll da kaputt gehen?“
„Da magst Du recht haben. Aber es geht auch um den Missbrauch Abhängiger. Man würde mir hier vorwerfen, dass ich Deine Abhängigkeit als Mündel ausgenutzt habe.“
„Das ist doch Unsinn. Ich bin überhaupt nicht abhängig. Wenn ich es nicht selbst wollte, würde ich die Polizei rufen oder Onkel Charlton Bescheid sagen und Du wärst schneller im Gefängnis, als Du ‚Enthaltsamkeit’ sagen könntest.“
„Was wäre denn aber, wenn Du ein Kind von mir erwartetest. Es bestünde eine sehr große Wahrscheinlichkeit, dass das Kind mit irgendwelchen Behinderungen oder Krankheiten auf die Welt käme.“
„Also unwertes Leben wäre? Das hört sich sehr nach Nazi an.“
„Das sagen einige Leute auch. Sie fragen ferner, wessen Rechte denn durch das Verbot geschützt werden sollen. Die des ungeborenen Kindes, das doch wohl eher an seiner eigenen Existenz interessiert sein dürfte? Die der potenziellen Eltern, wenn es doch einvernehmlich geschieht? Sie sagen, der Staat dürfe nicht in die Nachwuchsplanung seiner Bürger eingreifen und ihre Freiheit in diesem Bereich beschränken.“
„Und denk nur mal an nicht verwandte Eltern, die die gleichen Erbkrankheiten haben? Die dürfen Kinder bekommen.“
„Ja, da kommt ein Gleichbehandlungsgesichtspunkt hinzu. Aber mal ehrlich: Wenn Du es vermeiden kannst, dass Dein Kind behindert auf die Welt kommt, würdest Du es nicht auch wollen?“
„Ich weiß nicht. Wenn ich nur mit Dir ein Kind haben wollte und es keine Chance gäbe, eine Behinderung zu verhindern, bliebe mir wohl keine Wahl, als es zu riskieren. Sonst würde gar kein Leben entstehen.“
„Es gibt vielleicht Möglichkeiten, die Behinderungen im Mutterleib zu erkennen.“
„Aber abtreiben? Ich weiß nicht. Aber es gäbe ja auch noch die Möglichkeit, ein Kind zu bekommen, das nicht von Dir ist.“
„Du meinst so einen kleinen süßen Footballspieler von Jason?“, versuchte ich, der Diskussion ein wenig den Ernst zu nehmen, der nicht von der Hand zu weisen war.
Annabell lachte. „Spinner. Ich meine einen Spendervater. Oder eine Adoption. Es gibt doch viele Möglichkeiten, die man in Betracht ziehen sollte, wenn wir beide dadurch zusammen sein könnten. Ich meine ganz zusammen.“
„Und wie soll ein Kind damit umgehen, dass seine Eltern Geschwister sind?“
„Wir reden immer von einem Kind. Ich möchte in meinem Alter noch überhaupt kein Kind. Später vielleicht. Das wäre sehr schön.“
„Aber was, wenn es doch dazu käme, dass Du ein Kind erwartest? Das soll es ja auch ungewollt geben.“
„Das sagen zumindest viele, die den Männern Kinder unterjubeln. Aber ich sorge dafür, dass es nicht dazu kommt. Und wenn Du auch jedes Mal entsprechende Vorkehrungen triffst, sind wir doppelt abgesichert. Die Chance ist dann so gering.“
„Ich fürchte, sie ist vielleicht höher, als uns lieb ist. Aber …“
Ich zögerte.
„Aber was?“
„Ich denke darüber nach, eine dauerhafte Vorkehrung zu treffen.“
Annabell sah mich fragend an und ich stellte mit den Fingern eine Schere dar.
Sie sah entsetzt aus.
„Nein, keine Angst. Mir wird nichts abgeschnitten. Mir wird etwas durchgeschnitten. Vasektomie. Eine Sterilisation, die sogar reversibel sein soll.“
„Oh. Ist das sicher? Gibt es da keine Nebenwirkungen?“
„Nebenwirkungen sind nie ganz ausgeschlossen. Aber ich werde sie vielleicht in Kauf nehmen. Für uns. Ich denke darüber nach, wie gesagt.“
„Wenn Du das machen ließest, was spräche dann noch gegen uns?“
„Was werden die Leute sagen? Vergiss das nicht.“
„Sind die Leute denn wichtig? Sie müssen eben damit leben, was wir wollen. Vielleicht würden sie es sogar verstehen?“
Annabell klang selbst nicht sehr überzeugt.
„Das ist die große Frage. Und das ist eine der vielen Fragen, über die wir nachdenken sollten, bevor wir handeln. Warten wir ab, bis Du achtzehn wirst. Das Gesetz sagt, dass Du dann eigenverantwortlich entscheiden kannst.“
„So lange? Ist es nicht ein bisschen scheinheilig darauf zu achten, was das Gesetz an einer Stelle sagt, wenn wir es an einer anderen Stelle brechen wollen?“
„Dass wir es brechen werden, ist doch noch nicht entschieden. Aber in Ordnung, warten wir
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