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Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Titel: Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Neblin
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je mehr Leute an seine Theorien glaubten, desto mehr war er von ihnen überzeugt.
    Ich war ganz anderer Auffassung als McCandle. Für mich war der Mensch nur Körper, ein mentaler Zustand nicht mehr als das Ergebnis einer Gehirnfunktion. Das ‚Ich‘ oder das ‚Selbst‘, den Ethan Meyers, den ich selbst kannte,   - was für eine sinnleere Formulierung – gab es eigentlich gar nicht – er war eine Illusion meiner eigenen körperlicher Prozesse, selbst der Ethan Meyers, den andere kannten, war eine Illusion deren körperlicher Prozesse, eine Illusion, die im evolutionären Prozess von Nutzen war, die den Menschen hinaushob über Affen, Schweine, Vögel, Bäume, Plankton und Pantoffeltierchen auf den Thron des Daseins, von dem aus die Stufenleiter der Natur nicht ihren Ausgang nimmt, sondern wo sie ihr vorläufiges Ende findet. Real war nur die Illusion als solche, das neuronale Feuerwerk im Gehirn, nicht ihr Inhalt. Wenn mein Körper eines Tages verrotten würde, würde nichts übrig bleiben von diesem Gespinst. So war es nun einmal. Man musste sich irgendwie damit abfinden. Aber wenn auch von Annabell nichts übrig bliebe, während noch elektrische Impulse durch mein Gehirn flossen … Das war unerträglich. Ich wollte mich nicht mit dieser Möglichkeit beschäftigen und doch hing sie mit scharfer Klinge unverkennbar über meinem Haupt.

60.      Kapitel

 
 
    Die Biopsie bestätigte Dr. Mercers Befürchtungen.
    „Das Gewebe in der Lunge stirbt ab, ohne sich im gleichen Umfang zu regenerieren. In den Nieren beginnt dieser Prozess ebenfalls. Ich kann noch nicht sagen, wodurch das Ganze verursacht wird. Wir haben es hier mit einem seltenen Krankheitsbild zu tun.“
    Der Chefarzt sah müde aus. Sein Gesicht war fahl. Er machte fast den Eindruck, als ob ihm Annabells Schicksal persönlich etwas bedeutete.
    „Also wissen Sie auch nicht, wie Sie das Ganze behandeln müssen?“ Es war mehr Feststellung als Frage.
    Dr. Mercer nickte nur. Er sagte, er würde in den kommenden Tagen verschiedenen Hypothesen nachgehen und sich mit Kollegen beraten. Man sah ihm an, dass er das Rätsel lösen wollte.
    „Wie viel Zeit haben wir?“, fragte ich.
    „Der Vorgang scheint sich zu beschleunigen. In einem ungünstigen Fall ein paar Wochen. Vielleicht weniger.“
    „Ich vertraue Ihnen, Dr. Mercer. Finden Sie die Ursache. Egal, welche Behandlungsmethode Sie einsetzen müssen und sei Sie auch noch so kostspielig, egal, welche und wie viele Kollegen Sie hinzuziehen müssen. Geld soll in diesem Fall keine Rolle spielen. Ich selbst werde mich in Boston umhören. Meine Kanzlei hat gute Verbindungen nach Longwood. Wir stehen dort einigen Einrichtungen in steuerlichen Fragen zur Seite. Vielleicht kann ich dort ein paar Kontakte herstellen.“
    Die Longwood Medical and Academic Area ist ein medizinischer Campus in Boston, zu dem einige namhafte Forschungs-, Lehr- und Behandlungseinrichtungen gehören, unter anderem die Harvard Medical School. Wenn ich Dr. Mercer auch zutraute, dass er sich Mühe gab, war ich doch davon überzeugt, dass eine Expertengruppe bessere Ergebnisse erzielen konnte, als ein einzelner Arzt in Plymouth. Annabells Leben stand auf dem Spiel und ich würde nichts dem Zufall überlassen. Notfalls würde ich Professoren bestechen, damit sie sich der Sache annahmen. Das Problem war, dass meine verfügbaren Mittel, gelinde gesagt, zurzeit etwas dürftig ausfielen. Ein angemessener Lebensstil hatte eben seinen Preis – oder anders gewendet: Ein Lebensstil, der den Preis nicht hatte, war nicht angemessen. Ich würde Hawthorne um einen Vorschuss bitten müssen, wenn es sich nicht vermeiden ließe. Doch zunächst würde ich mir ein Bild von Annabells Finanzen verschaffen. Schließlich ging es ja um ihre Gesundheit. Dieses Anliegen führte mich zunächst zur Bank und anschließend zu einem älteren Herrn mit Priesterkragen und einer Vorliebe für verschlissene Kleidung und das Metaphysische.
    Es war gegen halb neun Uhr, als ich am Samstagabend bei McCandle vor der Tür stand. Ich kam unangemeldet und unterbrach den Reverend, während dieser die Predigt für den kommenden Tag vorbereitete. Dessen ungeachtet begrüßte er mich freudig und bat mich herein.
    Ich war noch nie zuvor bei McCandle zu Hause gewesen. Das Haus stand auf einer großen Rasenfläche neben der Kirche. Es war ein kleines, weiß getünchtes Holzhaus mit Sprossenfenstern und dunkelgrünen Fensterläden, das seine besten Jahre schon hinter sich hatte.

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