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Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Titel: Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Neblin
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Doch als ich ein Kind war, hatte die Familie McCandle bereits eine kleine Fabrik. Wir stellten Dichtungen für die Industrie her – Sie glauben gar nicht, wie wichtig Dichtungen sind, Ethan. Jedenfalls ging es uns nicht schlecht. Wir waren einigermaßen wohlhabend. Ich konnte aufs College gehen und Wirtschaftslehre studieren. In den Semesterferien arbeitete ich in unserem Unternehmen. Es war ein unbeschwertes Leben. Doch im dritten Studienjahr starb mein Vater ganz überraschend und ich musste das Studium abbrechen, um die Geschäftsführung zu übernehmen.
    Ich war ehrgeizig, Ethan. Ich begann mit Mitte zwanzig, das Unternehmen auszubauen und noch profitabler zu machen. Ich arbeitete rund um die Uhr, denn was wir hatten, reichte mir nicht. Es musste alles noch größer sein. Eine teurere Uhr, ein schnelleres Auto, ein größeres Haus. Meine Gier, Ethan, kannte mitunter keine Grenzen. Ich wollte alles. Ich liebte die schönen Dinge des Lebens. Erlesenes Essen, teure Kleider, Frauen … Ach, es waren hübsche Mädchen dabei ... Ich sonnte mich in der Bewunderung meiner Mitmenschen und suchte nach immer neuen Dingen, um sie auf mich zu ziehen. Doch mit Mitte dreißig schon, wendete sich das Blatt. Die Zukunft verdunkelte sich allmählich.
    Auf der einen Seite hatte ich alles, was man zum Leben braucht, im Überfluss. Eines Tages kam mir die schmerzliche Erkenntnis, dass die Dinge, denen ich nachjagte, weswegen ich mich abrackerte und versuchte, mehr und mehr Geld anzuhäufen, nur Phantome waren. Illusionen. Ein neuer Sportwagen war schön, aber schon nach ein paar Wochen war er alltäglich. Ein neues Mädchen, das ich mit meinem Erfolg beeindrucken konnte, eine neue Liebe oder besser Verliebtheit: In den ersten Wochen wunderbar, doch schon allzu bald wurde ich sie leid. Die gesellschaftliche Stellung, die mir der Erfolg verschaffte, was brachte sie denn anderes ein als hohles Geschwätz über Nichtigkeiten bei den eitlen Höhepunkten des gesellschaftlichen Lebens, bei denen äußerliche Schönheit, Unterhaltsamkeit und Reichtum mit dem Alter der Stammbäume wetteifern – als ob nicht jeder Mensch Erbe eines älteren und prächtigeren Reiches wäre. All diese Dinge brachten im Grunde keine Verbesserung der Lebensqualität, kein wahres Glück. Überfließender Reichtum kann nur überflüssige Dinge kaufen, wie es ein weiserer Mann, als ich es bin, einmal formuliert hat.
    Auf der anderen Seite hing ich gierig am Tropf des Erfolgs, saugte unablässig diese süße Droge ein und hatte Angst, das, was ich hatte, wieder zu verlieren. Ich hatte Angst, dass ich Fehler machte oder die äußeren Umstände, auf die ich keinen Einfluss hatte, sich so entwickelten, dass es mit dem Unternehmen bergab gehen würde. Ich hasste die Vorstellung, arm zu sein noch mehr als mein Leben im Wohlstand. Also musste ich weiter arbeiten, obwohl mich die Arbeit an den guten Tagen langweilte, mir an den schlechten Tagen aber so großem Stress verursachte, dass ich nicht schlafen konnte. Wenn ich morgens ins Büro ging, wünschte ich mir, es wäre schon Abend. Wenn ich aber einmal einen Tag freihatte, wusste ich nichts mit mir anzufangen und hatte ein schlechtes Gewissen. Ein Workaholic, der die Arbeit hasst – paradox nicht wahr? Die Tage wurden zahlreicher, an denen ich mich fragte, warum ich es mir antat, überhaupt aufzustehen und weiter zu machen, warum ich nicht einfach die Augen ein für alle Mal schloss. Und eines Tages im November fasste ich den Entschluss, aufzuhören.“
    „Was meinen Sie mit aufhören? Sie wollten sich umbringen?“
    Ich musste an Jack Davis denken.
    „Ja, Ethan. Das wollte ich. Die Vorstellung, tot zu sein, war attraktiv für mich. Nun sind Sie überrascht, nicht wahr? Sie hatten gedacht, ich wäre als Pfarrer auf die Welt gekommen, ist es nicht so?
    Jedenfalls: Es war ein trüber, frostiger Tag im November. Der November ist ein Monat, der geradezu prädestiniert dazu ist, die dunkelsten Gedanken hervorzubringen. Ein weiterer Sommer ist wieder ins Land gegangen, die Zeit der Dunkelheit beginnt. Die Blätter fallen, die Natur stirbt ab. Und ich machte mich auf, meinem Leben ein Ende zu setzen.
    Ich fuhr mit dem Wagen zu einer Brücke, von der es etwa vierzig Meter in die Tiefe geht. In einen Fluss mit flachem, eisigen Wasser und scharfkantigen Felsen. Ich rauchte eine letzte Zigarette, nahm mehrere große Schlucke Brandy und öffnete die Wagentür. Dann stieg ich aus. Meine Beine zitterten trotz des

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