Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
Ich weiß: ‚Unser täglich Brot gib uns heute‘ und so weiter und man soll Gottvertrauen haben. Brot in der Wüste, klar. Aber darauf können Sie doch im wahren Leben nicht setzen.“
„Da legen Sie den Finger direkt in die Wunde, mein Sohn“, räumte er ein wenig bedrückt ein. „Das bringe ich leider tatsächlich nicht fertig. Eine große Schwäche von mir, wenn Sie so wollen. Wenn ich dieses Vertrauen hätte, würde ich alles weggeben.“
Was sollte das nun wieder bedeuten? War das nicht genau das, was er in Bezug auf Annabell tat?
„Sie sprechen in fremden Zungen, Reverend.“
„Also gut, Ethan. Ich denke, Sie lassen mir keine andere Wahl, um Sie davon zu überzeugen, die bisherige Verfahrensweise fortzusetzen. Die schlichte Wahrheit ist: Ich bin nicht ganz mittellos. Die meisten Menschen würden sagen, ich sei reich. Aber das hängt natürlich immer von der eigenen Perspektive ab.“
Ich musste an diesen aufgeblasenen Dr. Heppleton mit seinen lumpigen 200.000 denken und fragte mich, ob die Leute in South Port im Allgemeinen eine andere Vorstellung von Reichtum hatten als die Menschen anderswo auf der Welt.
„Mein lieber Reverend, mit ein paar Hunderttausend Dollar, sind Sie fein raus, aber nun wirklich nicht reich“, lachte ich.
„Da muss ich zustimmen“, entgegnete er leicht gekränkt. „Aber was würden Sie zu 78,6 Millionen sagen?“
Ich glaube, das war der Augenblick, als mein Kiefer nach unten klappte und ich die Augen weit aufriss. Der Gesichtsausdruck musste etwas sehr Erheiterndes an sich haben, denn McCandles Miene hellte sich auf und er lächelte selbstzufrieden.
„Dollar?“, fragte ich.
„Na, was denken Sie denn, mein Junge? Mexikanische Pesos? Der Wert, den ich Ihnen genannt habe, ist der gerundete Wert von gestern Abend, wobei einige Vermögensgegenstände mit einem Festwert bewertet sind, da es für sie keinen Tageskurs gibt. Das Vermögen ist nur zu einem kleinen Teil liquide. Es verteilt sich vor allem auf Aktien, vorrangig einheimischer dividendenstarker Unternehmen, ausgewählte Staatspapiere, gut geratete Unternehmensanleihen, Immobilienbeteiligungen in Top-Lagen und ein paar Anteile an wenig korrelierenden Hedgefonds – zur Absicherung.“
Sein Lächeln wurde noch breiter. Die Intensität des Vergnügens, das es ihm bereitete, meine Verblüffung zu erleben, ließ darauf schließen, dass er stolz auf seinen Anlageerfolg war und so gut wie nie Gelegenheit hatte, darüber zu sprechen.
„Und nun rechnen Sie einfach mal“, fuhr er fort. „Wenn Sie eine jährliche Rendite von vier Prozent nach Steuern unterstellen, wären das über drei Millionen Dollar nominales Wachstum jedes Jahr – Tendenz steigend. Und in Wirklichkeit liegt die Vorsteuerrendite meist noch etwas höher. Zwar muss man fairerweise die Geldentwertung abrechnen, aber Sie sehen, ich kann es mir durchaus leisten, Annabell zu unterstützen. Sie sind mit einem Mal so blass, mein Sohn. Darf ich Ihnen nachschenken?“
Ich nickte nur. Mein Gehirn war noch damit beschäftigt, diese Informationen zu verarbeiten. Irgendetwas passte hier nicht zusammen. Ich kam nur nicht darauf, was es war. McCandle füllte mein Glas und ich nahm einen kräftigen Schluck.
„Sie wollen mir erzählen, Reverend, Sie fahren diesen klapperigen Mittelklassewagen, tragen diese verschlissenen Anzüge und wohnen in diesem kleinen alten Pfarrhaus, obwohl Sie über fast achtzig Millionen Dollar verfügen? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Sie nehmen mich doch auf den Arm.“
„Aber keineswegs. Ich gebe Ihnen mein Wort.“
Der Reverend erschien mir nicht als der Mann, der mir Lügengeschichten auftischen würde, aber diese Geschichte würde ich erst glauben, wenn er mir auch erzählte, wie er an das Geld gekommen war.
61. Kapitel
Ich hatte noch immer die Vermutung, dass sich der Reverend diese Räuberpistole von den Millionen nur ausgedacht hatte, damit ich weiterhin seine Zuwendungen an Annabell erlauben würde.
„Und wie wollen Sie an das Geld gekommen sein?“, fragte ich ihn daher.
„Wie soll ich es Ihnen am besten erklären?“ McCandle legte die Hände zusammen und dachte nach.
„Sehen Sie, es ist so: Ich war nicht immer Pfarrer. Als ich jung war, Ethan, war ich ein anderer.“
Und er sah an mir vorbei aus dem Fenster und tauchte ein in seine Erinnerungen.
„Meine Familie lebte unten in New Jersey. Meine Urgroßeltern sind aus Schottland in dieses Land gekommen ohne einen Cent in der Tasche.
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