Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
einer leichten Urämie. Im Blut wurden Substanzen, die eigentlich mit dem Urin ausgeschieden werden sollten, in erhöhtem Umfang nachgewiesen.“
„Das bedeutet?“
„Es wäre unprofessionell hier voreilige Diagnosen zu stellen.“ Er klang deutlich weniger zuversichtlich als am Montag, fast hatte man den Eindruck er klänge … traurig.
„Was meinen Sie mit ‚voreilige Diagnosen‘?“Ein mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus. „Sie klingen, als hätten Sie einen Verdacht.“
„Bis man etwas Genaues weiß, hat man selbstverständlich den einen oder anderen Verdacht. Und wir sollten zunächst weitere Untersuchungen anstellen, um diese Verdachtsmomente zu bestätigen oder auszuschließen.“
Damit wollte ich ihn nicht davon kommen lassen.
„Sie legen sich ja beinahe so ungern fest, wie ein Jurist. Nehmen wir einmal an, die schlimmste Ihrer möglichen Diagnosen würde bestätigt. Was wäre das für ein Fall? Ich verlange, dass Sie es mir sagen.“
„Wie Sie meinen“, sagte er bedauernd. „Im schlimmsten Fall stirbt das Lungengewebe Ihrer Schwester ab, ohne dass es vom Körper ersetzt wird. Das CT zeigt einige Randbereiche, in denen dieser nekrotische Prozess schon vor längerer Zeit stattgefunden haben muss. Im schlimmsten Fall befindet sich die Krankheit, was auch immer es ist, im Augenblick in einer Akzelerationsphase, sie beschleunigt sich. Das Lungengewebe stirbt ab und Bakterien und körpereigene Zellen machen sich darüber her. Vielleicht lösen sie den Prozess auch aus, ich weiß es nicht. Töten wir die Bakterien, heißt das noch nicht, dass wir den zugrunde liegenden Verfall der Lunge aufhalten. Dass dieses Phänomen in der Lunge auftritt, ist für sich betrachtet schon besorgniserregend genug. Aber nun auch noch die Urämie. Womöglich tritt der Gewebeverfall auch in den Nieren auf, womöglich werden andere Organe betroffen. Das wäre der schlimmste Fall. Aber wie ich schon sagte: Wichtige Informationen fehlen uns noch. Wir werden morgen eine Biopsie durchführen, d.h. Gewebeproben entnehmen. Danach können wir vermutlich mehr sagen. Das Problem ist, dass wir es im Augenblick nicht einmal schaffen, die Bakterien zu besiegen. Der bisherige Keim ist zwar weit zurückgedrängt, aber stattdessen hat sich ein neuer Erreger vermehrt, der nicht auf die Antibiotika reagiert.“
„Wie müssen wir das Worst-Case-Szenario zu Ende denken? Worauf müssen wir uns einstellen?“
Ich war mir nicht sicher, ob ich die Antwort hören wollte.
„Wenn Organe einfach absterben und wir die Infektion nicht aufhalten können … Man braucht auf Dauer Lunge und Nieren und andere Organe, um zu überleben.“
Kalter Schweiß brach mir aus. Nach dem Gespräch legte ich den Hörer mit zitternder Hand auf die Gabel.
Das konnte nicht sein. Es musste sich um einen Zufall handeln. Dr. Mercer hatte selbst gesagt, dass es nicht bestätigt war, dass er sich in Spekulationen erging. Ich war selbst schuld, dass ich weiter gebohrt hatte. Es konnte alles nur ein dummer Zufall sein. In ein paar Tagen sah die Welt sicher schon ganz anders aus. Nicht auszudenken, wenn … Annabell, meine wundervolle Annabell, auf dem Gipfel ihrer Jugend … wir hatten, einander gerade erst gefunden. Eine Welt ohne Annabell? Tränen stiegen mir in die Augen. Ich wollte es mir nicht vorstellen und konnte doch an nichts anderes mehr denken.
Als ich Annabell an diesem Abend besuchte, konnte ich es kaum aushalten. Es kostete mich alle Kraft, mich zu verstellen und so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Das letzte, was Annabells Genesung fördern würde, wäre es, sich Sorgen zu machen. Aber sie merkte, dass etwas nicht stimmte. „Ärger im Büro“, log ich, aber sie sah mich zweifelnd an und schien nicht ganz überzeugt. Sie wollte Einwände erheben, aber die Luft blieb ihr weg. Sie schnappte nach Atem. Ein Gerät an ihrer Seite blinkte auf. Ein Pfleger, den ich nicht kannte, und dessen Namen ich mir auch nicht gemerkt habe, stürzte herein, doch bevor er etwas tun musste, war der Schrecken vorüber und Annabell kam von selbst zu Atem.
Der Vorfall führte mir erneut vor Augen, wie gefährlich ihre Krankheit war, und er lenkte sie vom Thema ab. Sie erzählte mir stattdessen, dass ein Mädchen von acht Jahren sie am Nachmittag besucht hatte. Eine Schwester von der Kinderstation hatte es im Rollstuhl herübergefahren. Die Kleine hatte Krebs. Keine Aussicht auf Heilung. Annabell hatte noch vor zwei Monaten das Kind besucht und nun hatte die Kleine
Weitere Kostenlose Bücher