Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
darauf bestanden, sich zu revanchieren und Annabell zu besuchen.
„Sie weiß es, Ethan. Sie weiß, dass sie nicht mehr gesund wird. Aber ihre Eltern haben ihr erzählt, dass sie zu ihren Großeltern in den Himmel kommt. Und das tröstet sie. Deswegen hat sie keine Angst. Ich weiß nicht, ob ich so tapfer wäre.“
Die letzte Bemerkung machte mich hellhörig. Ahnte sie etwas von dem, was Dr. Mercer prophezeit hatte?
„Ich weiß nicht, ob die Kleine wirklich tapfer ist oder nur ein Kind, das für bare Münze nimmt, was man ihm erzählt. Uns könnte man zwar dasselbe erzählen, aber wir könnten es nicht ohne Weiteres glauben, weil wir wissen, dass diejenigen, die uns den Himmel versprechen, selbst keine Erfahrung in der Sache haben.“
„Du weißt, ich glaube an Gott, aber wenn ich mir vorstelle, wie es ist, zu sterben, bekomme ich doch Angst. Ich meine, wie sollen wir weiterleben oder wie soll er uns aufwecken oder wieder erschaffen oder uns einen neuen Körper geben, wenn wir doch nie dieselben sind?“
„Nie dieselben? Wie meinst Du das?“
„Ich meine, ich bin heute nicht die, die ich war, bevor ich Dich im Diner getroffen habe und auch nicht die, die ich vor dem Hurrikan war. Im Augenblick bin ich so müde. Mir ist schlecht. Auf dem Gang habe ich eine alte Frau gesehen, die immerzu nach einem John fragt. Die Schwester hat gesagt, das sei ihr Mann gewesen. Aber die Frau ist dement. Sie weiß nicht, dass er tot ist. Wie sollen wir unsterblich weiter leben, wenn wir uns doch von Tag zu Tag verändern? Was von uns bleibt gleich?“
Was fragte sie mich das? Ich glaubte ja nicht einmal an so einen Unsinn. Aber wenn auch nur die Möglichkeit bestand, dass sie sterbenskrank war, gab es nichts Wichtigeres, als dass sie weiter auf ein Leben nach dem Tod hoffen konnte. Also musste ich mich in die abstruse Gedankenwelt des Reverends hineinversetzen – und das möglichst überzeugend:
„Denkbar ist es. Was haben wir denn: Wir verändern uns, sagst Du, und unser Verstand ist unter Umständen nicht mehr ganz frisch, wenn wir noch leben. Das ist ja nicht nur bei der alten Frau so, sondern kann sich ja auch bei jungen Menschen infolge einer sogenannten psychischen Erkrankung ergeben. Schon ein Glas Whiskey reicht aus, unseren Verstand zu benebeln. Marihuana oder Kokain sollen noch ganz andere Effekte haben. An manchen Tagen sind wir fröhlich an anderen schlecht gelaunt. Und doch leben wir im Jenseits weiter. Wie passt das zusammen?“
„Gar nicht. Das ist ja das Problem. Ich habe das nie groß hinterfragt, aber während ich hier herumliege, kommen mir diese Gedanken.“
„Ich meine schon, dass es passt“, erwiderte ich, denn mir war etwas von dem in den Sinn gekommen, was McCandle bei unserer ersten Begegnung gesagt hatte. Merkwürdig, dass ich mir dieses Zeug gemerkt hatte, aber nun kam es mir ja wenigstens zugute.
„Um weiterzuleben, müssen wir eine unsterbliche Identität haben. Im Leben erleben wir uns bei klarem Verstand als diejenigen, die wir am Tag zu vor waren. Unser Bewusstsein erlebt ein Ich oder ein Selbst. Doch auch dieses präsente Bild vom Ich verändert sich ständig, geht unter Umständen ganz verloren. Ich bezweifle daher, dass es als Träger der Identität des Menschen über den Tod hinaus geeignet ist. Wir müssen uns die unsterbliche Person oder Seele oder, wie auch immer Du es nennen möchtest, als etwas vorstellen, was nicht mit dem Geist, den wir selbst im Leben bei uns erleben, dem Bewusstsein, und noch nicht einmal mit dem veränderlichen, darüber hinaus auch das Unbewusste umfassenden jeweils gegenwärtigen psychischen Zustand identisch ist. Die Psyche klebt nämlich irgendwie am Körper und der Körper verändert sich und wirkt so vermutlich auf den jeweiligen psychischen Zustand ein. Der Reverend hat einmal vom Menschen als einem Compositum von Leib und Seele gesprochen, wobei die Seele das Form- und Vitalprinzip ist, das den materiellen Körper erst lebendig macht.“
„Das hast Du Dir gemerkt? Ich habe gedacht, Du hörst ihm gar nicht zu.“
„Manchmal passe ich auf – jedenfalls: Nehmen wir einmal an, Du wärst gesund, und wir hätten uns länger als vierundzwanzig Stunden nicht gesehen, woran glaubst Du, würde mein Bewusstsein als Erstes denken oder woran würde ein bestimmter Körperteil es denken lassen?“
„Ethan!“, tadelte sie mich mit gespielter Empörung. „Jetzt bleib mal anständig. Das ist ernst.“
„Ich wollte Dir die Zusammenhänge nur
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