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Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Titel: Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Neblin
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Der Reverend führte mich in ein enges, aber gemütliches Zimmer, das ihm als Wohn- und Arbeitszimmer diente und ließ mich in einem durchgesessenen Fernsehsessel Platz nehmen. Nachdem er uns eine kühle Flasche Wasser und zwei Gläser aus der Küche geholt hatte, von denen das eine ursprünglich von Coca-Cola, das andere von einem Senfhersteller stammte, befreite er die Sitzfläche eines Lehnstuhls von einem Stapel Bücher, die dort wie an den verschiedensten anderen Stellen im Raum in einer für mich nicht durchschaubaren, womöglich auch gar nicht bestehenden Ordnung abgelegt waren, und setzte sich zu mir. Er brannte darauf, Nachrichten von Annabell zu hören und bot an, uns auch einen Brandy zu holen, nachdem er erfahren hatte, wie die Dinge standen.
    Nachdem wir unsere Gläser in einem Zug geleert hatten, stellte ich McCandle zur Rede: „Wo kommt das Geld her, Reverend?“
    „Was meinen Sie?“
    McCandle stellte sich ahnungslos.
    „Ich war bei der Bank, bei der Annabells angebliches Vermögen verwahrt wird. Nachdem ich den Filialleiter, der es kaum erwarten konnte, die Türen zu schließen und seinen Feierabend anzutreten, unter Hinweis auf meine Vormundschaft und einigem juristischem Säbelrasseln überzeugen konnte, dass es besser für ihn wäre, mir die Verhältnisse meines Mündels offen zu legen, musste ich erfahren, dass zwar ein auf den Namen Annabell Lilly Meyers lautendes Wertpapierdepot besteht, dieses Depot aber lediglich ein paar lausige Fondsanteile im Wert von ein paar Tausend Dollar enthält. Ungefähr 6.000, wenn ich es richtig im Kopf habe. Also wo, verdammt noch mal, kommt das Geld her, das jeden Monat auf Annabells Konto eingeht?“
    „Es besteht wirklich kein Grund zu fluchen, mein Sohn“, tadelte McCandle und fuhr resigniert fort: „Ich habe damit gerechnet, dass sie es irgendwann bemerken würden. Es war im Grunde nur eine Frage der Zeit. Ich hatte zwar gehofft, dass alles so diskret weiter läuft, wie bisher, aber nun gut: Das Geld kommt von mir.“
    „Von Ihnen?“
    Ich sah ihn ungläubig an.
    „Ja. Aber keine Angst, es sind keine zweckentfremdeten Gelder der Gemeinde oder dergleichen. Es kommt sozusagen aus meiner Privatschatulle.“
    „Aber Sie haben mir soeben gesagt, es wäre genug da, um die besten Ärzte aus Boston und selbst die exotischsten Behandlungsmethoden zu bezahlen, wenn es notwendig werden sollte. Die monatliche Zuweisung ist schon ganz ordentlich. Sie müssen ja nun auch leben. Also verzeihen Sie mir bitte die Frage, Reverend, aber wie können Sie sich das leisten? So viel kann ein Pfarrer doch unmöglich verdienen?“
    „Ich nehme die Frage ganz und gar nicht übel. Und Sie haben natürlich recht . Das Gehalt eines Pfarrers ist nicht unbedingt üppig. Das Geld kommt – wie soll ich sagen – aus meinem Sparstrumpf.“
    Nun war ich überrascht und fast ein wenig gerührt. Da setzte dieser Mann seinen Notgroschen ein, um Annabell zu unterstützen. Kein Wunder, dass er Annabell gesagt hatte, das Geld würde nicht ewig reichen und sie müsste sich darauf einrichten, eines Tages auf eigenen Beinen zu stehen.
    „Aber Reverend, wie können Sie das tun? Sie können doch nicht Ihre Ersparnisse hergeben. Ich meine, Sie sind ja nun auch nicht mehr der Jüngste. Vielleicht sollten Sie besser etwas für ihre Zukunft übrig lassen. Stellen Sie sich nur einmal vor, Sie müssten in ein Pflegeheim. So etwas verschlingt Unsummen.“
    „Machen Sie sich da mal keine Sorgen. Ich werde schon irgendwie über die Runden kommen.“
    Na der Mann hatte Ideen. Es kam nicht infrage, dass es so weiter ging.
    „Reverend, das ist lieb gemeint, aber – und das sage ich auch im Namen von Annabell – wir können Ihr Geld nicht länger annehmen. Es war etwas anderes, als wir davon ausgegangen sind, es wäre das Erbe meiner Schwester. Von daher war es nicht ungeschickt von Ihnen, die Herkunft zu verschleiern. Aber nun, da es heraus ist, werde ich uns beide in Zukunft selbst unterhalten. Am Ende sind Sie noch arm wie eine Kirchenmaus“ – im wahrsten Sinne des Wortes – „und wir müssen Sie durchfüttern.“
    Ich versuchte, dem Ganzen die Ernsthaftigkeit zu nehmen. Der Reverend musste auch tatsächlich schmunzeln.
    „Das ist sehr ehrenhaft von Ihnen, Ethan, aber, weiß Gott, nicht notwendig. Es ist ein ziemlich großer Sparstrumpf, von dem wir reden. Wenn ich eines reichlich habe, dann Geld.“
    Nun begann ich, an seinem wirtschaftlichen Verstand zu zweifeln.
    „Was soll das heißen?

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