Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
Alkohols.
Spätestens, wenn man kurz davor steht, zu springen, beginnt man, sich zu fragen, wie der Aufprall sein wird und was eigentlich danach kommt. Doch ich nahm allen Mut – oder allen Irrsinn – zusammen und stieg auf das Brückengeländer. Es war eine dieser alten Brücken mit einem Geländer aus Stahl. Ein Geländer mit horizontalen Streben. Wie die Sprossen einer Leiter. Ich setzte den Fuß auf die unterste Strebe und …
… rutschte mit der Ledersohle meines maßgefertigten Schuhs auf dem mit Raureif überzogenen Metall ab. Meine Hände griffen noch die oberste Strebe und bremsten den Sturz. Nichtsdestotrotz schlug ich mit dem Kinn auf den harten Beton und blieb liegen.
Als ich die Augen wieder aufschlug, fiel mein Blick auf etwas Glitzerndes, das schon zuvor dort gelegen haben musste, das ich aber übersehen hatte: Eine zerrissene Halskette, die jemand dort verloren oder weggeworfen hatte, und an dieser Kette hing ein Kruzifix. Es klingt wie von einem drittklassigen Schriftsteller zusammengedichtet, aber das war mein Kairos , der Augenblick meiner Berufung. Ich spürte in diesem Moment, dass der Herr mir ein neues Leben geschenkt hatte und dass er meinem Leben einen Sinn gab:
Der Mensch hat im irdischen Dasein weite Möglichkeiten: Er kann zoon politikon sein, das Gemeinschaftstier, das sich um seine Mitmenschen sorgt, oder homini lupus, dem Mitmenschen ein Wolf, der ihn in Stücke reißt. Aber der Mensch ist immer auch homo religiosus. Seit vierzigtausend Jahren oder länger schon fragt er danach, was jenseits der sinnlich erfassbaren Welt vor sich geht. Sehen Sie sich nur die Höhlenmalereien an oder prähistorische Grabbeigaben. Der Mensch fühlt ganz tief in seinem Inneren, dass er für ein Leben jenseits dieser Welt geschaffen ist. Er hat das natürliche Bedürfnis auf die Knie zu fallen und Gott, oder wie er die transzendente Realität auch bezeichnet, anzubeten – nicht weil er minderwertig ist, sondern weil es seine natürliche Haltung als Geschöpf ist, weil es das Ziel seines unsterblichen Lebens ist, Gott zu schauen. Er verspürt eine unbewusste Sehnsucht nach der Glückseligkeit dieser göttlichen Vision und er versucht auf Erden, diese Sehnsucht nach Glück mit den verschiedensten Substituten zu erfüllen. Mit Ruhm, mit Macht, mit körperlichen Freuden, was auch immer. Doch natürlich kann nichts davon annähernd ein geeigneter Ersatz sein. Ich sehe es als meine Berufung, den Menschen die fortdauernde Seite ihres Wesens nahe zu bringen, damit sie schon im Diesseits ihr Leben an ihrer jenseitigen Bestimmung ausrichten können und damit in einer Entscheidungssituation ihre unsterbliche Natur den Ausschlag gibt. Ich hoffe, damit schon ansatzweise das zu tun, was ich im jenseitigen Reich erwarte: Den Teil der unendlichen Herrlichkeit mit anderen zu teilen, den ich erfahre.“
„Haben Sie einmal in Erwägung gezogen, dass das auf der Brücke nur Zufall war?“, fragte ich.
„Das habe ich. Aber ich erlebe es als gnädige Vorsehung. Viele Menschen, denen es so geht, wie es mir ging, rutschen nicht aus. Es sind viele erfolgreiche Menschen dabei, die sich das Leben nehmen oder meinen, ihren Alltag nur zu überstehen, wenn sie sich mit den verschiedensten Drogen betäuben. Vielleicht liegt es an Defekten im Gehirn, dass manche Menschen unglücklich sind, irgendwelchen Stoffwechselstörungen. Vielleicht helfen in vielen Fällen nur Medikamente, vielleicht Therapiesitzungen. Mir hat der Herr geholfen, davon bin ich überzeugt.“
„Und dann sind Sie nach South Port gegangen?“
„Ich habe das Unternehmen verkauft. An einen Konzern, der heute Magnon Industries heißt. Ich halte aus sentimentalen Gründen sogar noch einige Aktien dieses Unternehmens. Der Kurs entwickelt sich alles andere als zufriedenstellend. Ich erwäge, sie abzustoßen.“
Und hier schließt sich der Kreis, dachte ich: Der Reverend – selbst seine Heiligkeit, der Reverend – treibt DeVere an, DeVere treibt Hawthorne an, Hawthorne mich. Shareholder-Value. Ich konnte McCandle nicht einmal böse sein. Als Investor, als jemand der sein Geld einem Unternehmen in Form einer Beteiligung oder eines Darlehens zur Verfügung stellt, konnte er erwarten, dass die Person, der er es anvertraute – das war bei Magnon niemand anderer als Royce DeVere –, das in sie gesetzte Vertrauen nicht enttäuschte, sondern das Geld nach besten Kräften erhielt und vermehrte. Da Geld in der Regel an Wert abnimmt, wenn man es lediglich unter das
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