Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
erschaffen uns gegeben ist, schon im Schatten stehen, wie viel größer ist der Unterschied zur beseelten Natur, zu allem, in dem die Kraft des Lebens wohnt. Was soll ich aus der Fülle und Vielfalt des Lebens herausgreifen? Nehmen wir etwas scheinbar Alltägliches wie einen Baum. Der kleine Same fällt zu Boden und es entsteht ein winziges Pflänzchen. Mit etwas Glück haben wir in ein paar Jahren einen massiven Stamm und eine weite Krone. Der Baum verändert sich Ethan, er wächst nicht nur, er richtet sich auf die Sonne aus, er reagiert auf Dürre und Regen, er wandelt sich im Laufe der Jahreszeiten. Im Frühjahr üppige Blüten und frisches Grün, die sich langsam aus den Knospen schälen, im Sommer Früchte und ein reiches Schatten spendendes Blätterdach, im Herbst ein buntes Potpourri von Farben, im Winter ein trotzig kahler Geselle, der Sturm und Frost widersteht. An jedem einzelnen Tag können Sie diesen Baum studieren und werden immer wieder neue Bilder sehen: Wie er sich sanft im Wind wiegt, wie der Tau auf den Blättern funkelt, wie Sonne und Wolken das Kunstwerk im Laufe eines Tages in ganz unterschiedlichen Farben zeichnen, wie der Baum mit anderen Geschöpfen zusammenlebt. Ameisen krabbeln die Borke entlang, eine nimmersatte Raupe frisst sich ihren Weg durch die Blätter bis sie, zum bunten Schmetterling verwandelt, in die Welt hinaus fliegt, Vögel nisten in der Krone, ein Eichhörnchen huscht den Stamm hinauf und macht sich fröhlich über die Früchte her. Ist das nicht faszinierender als der schnellste Sportwagen?“
„Ihre Begeisterung für Bäume in allen Ehren, Reverend. Die allgemeine Wahrnehmung ist eine andere.“
„Der Baum ist nur ein Beispiel für die lebendige Natur. Wenn ein Gänseblümchen so selten wäre und so viel kosten würde wie ein Luxussportwagen und es dementsprechend ein Privileg wäre, eines zu besitzen, was meinen Sie wie sich die Menschen für Gänseblümchen interessieren würden. Es käme nicht zur historischen Tulpen-, sondern zur Gänseblümchenblase. Und wie gesagt: Die Natur, das Leben, die Schöpfung - auch sie ist Symbol. Sie verweist auf den Schöpfer. Insbesondere deswegen und insofern ist sie schön.
Aber um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen, Ethan: Die Begierden des Konsums habe ich ganz gut im Griff. Vielleicht fällt es mir deswegen leicht, einer törichten Anschaffung zu widerstehen, weil ich weiß, dass ich sie mir jederzeit leisten könnte. Vielleicht, weil mein früherer Hochmut gezügelt ist. Meine große Schwäche bleibt, wie Sie sicher erkannt haben, mein Vermögen als solches. Ich kann mich nicht davon trennen. Ich hege es, pflege es, verfolge, wie es sich entwickelt – eine Form der Habgier, ganz unbestreitbar. Deshalb nehmen Sie bitte mein Geld. Annabell bedeutet mir sehr viel. Sie muss die beste Behandlung bekommen, die wir für Geld kaufen können. Wenn es dem Herrn dennoch gefällt, sie zu sich zu rufen, müssen wir uns damit abfinden. An seinem Willen gehen wir nicht vorbei.“
Nein, wollte ich hinausschreien. Wir können uns damit nicht abfinden. Doch ich sagte nichts.
Ich lag lange wach, in dieser Nacht. Ich war zornig. Schon allein die Vorstellung eines Gottes, der zulassen konnte, dass Annabell zugrunde ging, war obszön. Was wäre das für ein Gott? Ein guter sicherlich nicht.
Aber ich war auch verzweifelt. So verzweifelt, dass ich bereit war, mich an jeden Strohhalm zu klammern. Wenn auch nur die Möglichkeit bestand, dass es Gott wirklich gab, wie McCandle so unablässig predigte, und Gott barmherzig war und unsere Gebete erhörte, durfte ich diese Möglichkeit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Soweit ich das Handeln in seine Hand legte, konnte ich die Verantwortung für Annabells Schicksal abgeben und darin vielleicht ein wenig Erleichterung finden. Also beschloss ich, zu beten.
Es war nicht einfach. Denn ich wusste nicht wie. Ich versuchte krampfhaft, mir die Gebete meiner Kindheit in den Sinn zu rufen, aber es kamen nur zusammenhanglose Bruchstücke dabei zutage.
Also gab ich die frommen Floskeln auf. Was nutzten sie ohnehin, wenn Gott unser Innerstes kannte und wusste, dass ich sie nicht so meinte? Wenn Gott allwissend war, nutzte es nichts, sich zu verstellen. Es war dann zwar auch überflüssig zu beten, denn er musste ja auch ohne Gebet wissen, wie einem zumute war. Aber es tat mir selbst gut, die Worte auszusprechen. Also sprach in Gedanken:
„Gott“ – ich scheute mich, ihn „Herr“ zu nennen. Das kam mir
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