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Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Titel: Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Neblin
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meinem Körper reflektiert, oder Deine Augen können den Klang nicht denken, der von mir widerhallt – es ist schwierig, es in den Worten Deiner Sprache auszudrücken. Schon das Wort ‚Körper‘ trifft es eigentlich nicht.“
    In meiner Sprache. Was war denn seine Sprache? Khoisan?
    „Du tust so, als wäre es selbstverständlich, dass mir da irgendwas fehlt.“
    „Es ist selbstverständlich. Und es ist gut so. Wenn es anders wäre, würdest Du Dir nichts sehnlicher wünschen, als mir zu folgen.“
    Ich dachte an Annabell und sagte:
    „Keine Chance. Ich bin vielleicht mittlerweile dabei, den Verstand zu verlieren, aber ich bin nicht suizidgefährdet.“
    Noch nicht, fügte ich in Gedanken hinzu.
    „Auch das ist gut so.“
    Ich hätte hinterfragen können, warum das gut war, aber eine ganz andere Frage brannte mir auf der Zunge: „Wie konntest Du uns verlassen?“
    Ich meinte nicht den Unfall. Das war Fremdverschulden gewesen. Ich meinte die Trennung meiner Eltern und er schien es zu wissen, bevor ich die Frage ausgesprochen hatte.
    „Deine Mutter und ich waren überzeugt, dass wir nicht länger zusammenleben konnten. Wir haben uns ständig gestritten. Wir sahen keine Freundschaft mehr zwischen uns. Jeder von uns hatte das Gefühl, dass er den anderen einengt und von ihm eingeengt wird, dass das Leben ohne einander besser wäre. Es war der Endpunkt einer langen Reihe von Fehlern. Aber wir haben sie gemacht – beide – und sie ließen sich aus damaliger Sicht nicht mehr ungeschehen machen.“
    Früher wäre ich ihm vermutlich ins Wort gefallen. Für mich war immer sie die Schuldige gewesen – Annabells Mutter. Alles andere hätte ich als Täuschung entlarvt. Aber hier war keine Täuschung im Spiel. Er trug keine Maske und es schien so, als könne er selbst dann kein Wort der Unaufrichtigkeit sprechen, wenn er es wollte, ja als könne er schon einen dahin gehenden Willen nicht entwickeln. Nichts als leidenschaftslose Wahrhaftigkeit.
    „In dieser Situation“, fuhr er fort, „traf ich Beatrice. Sie war jung, mehr als zehn Jahre jünger als Deine Mutter und ich. Es war wie eine zweite Chance. Die Chance es diesmal richtig zu machen. Dann war da Annabell, dieses süße kleine Mädchen. Ich wollte nicht, dass der Kontakt zwischen Dir und mir abbricht. Ich habe versucht, es zu verhindern.“
    „Vielleicht nicht stark genug. Meinst Du nicht, Du hättest Dir ein bisschen mehr Mühe geben können?“, ging ich ihn an.
    Und mir wurde bewusst, wie sehr ich ihn dafür gehasst hatte, dass er Beatrice und Annabell meiner Mutter und mir vorgezogen hatte. Wenn ich Annabell zu Anfang verführt hätte, so wäre es auch zu einem Stück weit aus Rache an ihm gewesen.
    „Das habe ich mir auch oft gesagt und im Augenblick des Unfalls habe ich mir gewünscht, ich hätte es besser gemacht“, erwiderte er und nun spürte ich eine Spur von Bedauern in seiner Stimme. Aber es waren nicht Kränkung oder Schuldgefühle. Er schien lediglich zu wissen, was ich fühlte.
    Ich wusste darauf nichts zu entgegnen. Mein Ärger und meine Enttäuschung waren plötzlich verflogen.
    „Gibt es noch etwas, über das Du sprechen möchtest?“, fragte er. „Dieser Besuch bei Dir geht seinem Ende zu.“
    Im Nachhinein fallen mir viele Fragen ein, die ich hätte stellen können. Fragen, die sich schlicht aufdrängen: Wie ist es, zu sterben? Was geschieht, wenn man tot ist? Doch das alles interessierte mich in diesem Moment nicht.
    „Ich habe nur eine Frage, die wirklich zählt: Werden die Ärzte Annabell helfen können?“
    Sein Gesicht wurde ernst, undurchdringlich.
    „Mein Sohn, Annabell bedeutet mir eine Menge. Als kleines Mädchen war sie mein Augenstern. Und ich weiß, wie viel sie Dir bedeutet. Doch Du fragst nach Dingen, die in Deiner Zukunft liegen. Und auf solche Fragen kann ich Dir keine Antwort geben. Doch ob diese Therapie anschlägt oder nicht, was immer auch geschieht, das eine kann ich Dir mit auf den Weg geben: Fürchte Dich nicht, mein Junge. Hab Vertrauen.“
    Ich wollte mich nicht damit zufriedengeben. Kannte er die Antwort wirklich nicht, oder hielt er sie nur zurück?
    „Was soll das heißen? Hab Vertrauen.“
    Doch er war schon aufgestanden, bereit zu gehen.
    „Am Ende wirst Du sehen, was ich meine. Aber nun ist es Zeit für Dich, aufzuwachen. Wir werden noch lange genug Zeit haben, uns zu unterhalten“, er lächelte verschmitzt, „beinahe eine Ewigkeit lang.“
    In diesem Augenblick verschwamm der Raum. Es wurde Dunkel

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