Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Titel: Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Neblin
Vom Netzwerk:
inne und wagte nicht, die letzten drei Schritte zu gehen. Schnell wechselte ich den Schläger in die linke Hand und griff in die Tasche nach der Pistole. Lieber schießen, als erschossen zu werden – zumindest solange Annabell noch atmete. Danach würde ich in einer solchen Situation unbewaffnet und mit einem lauten Spottlied über Kleinganoven auf den Lippen in die Küche stürmen. Sicherlich würde mir etwas Passendes in der Richtung einfallen.
    Nachdem ich eine gefühlte Ewigkeit auf der Treppe verharrt hatte, ohne dass sich die Küchentür geöffnet hätte oder sonst etwas passiert wäre, wagte ich mich die letzten Schritte nach unten vor und huschte auf den Zehenspitzen zur Küchentür. Das Geschehen im Wohnzimmer oder besser, das Fehlen jeglicher Vorgänge im Wohnzimmer, behielt ich im Auge.
    Jetzt stand die Entscheidung bevor: Ohne meinen Widersachern kostbare Zeit der Vorbereitung zu schenken, stieß ich die Küchentür mit Wucht auf und suchte mit der Mündung der Waffe ein lohnendes Ziel. Ich fand es in einem Mann, der mich vom Küchentisch her ansprach:
    „Guten Morgen, Ethan. Hast Du gut geschlafen? Komm doch her und setzt Dich zu mir. Ich habe uns einen Tee gemacht.“
    Ich erstarrte und ließ ganz allmählich, Zentimeter für Zentimeter, die Pistole sinken. Ich fühlte das Blut aus meinem Gesicht weichen, sich in meinen Adern zu zähflüssigem Sirup verdicken und ins Stocken geraten. Mein Puls ging gegen Null. Der Baseballschläger fiel mit einem lauten Poltern auf den steinernen Küchenboden und ich hielt mich mit der freien Hand am Küchenschrank fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
    Der Mann, der da zu mir gesprochen hatte, sah mich freundlich an. Er schien meine Reaktion auf seine Anwesenheit gar nicht zu bemerken oder, falls er sie bemerkte, ging er zumindest darüber hinweg. Eine eigentümliche Gelassenheit, noch eher mochte man sagen, Erhabenheit, ging von ihm aus und durchflutete den Raum. Sie erfasste mich wie eine Welle reiner Energie und half mir, das Gleichgewicht wieder zu finden.
    Ich erkannte ihn sofort. Obgleich ich dieses Antlitz zum ersten Mal sah, war er mir so vertraut, als hätte ich es schon unzählige Male gesehen. Und tatsächlich hatte ich das auch – in gewisser Weise. Er sah anders aus. Anders als früher und doch wesenhaft gleich. Anders als alle Gesichter, die ich jemals gesehen hatte. Weder alt noch jung. Oder alt und jung zugleich. Jenseits der üblichen Zeit.
    „Aber Du bist tot“, war alles, was ich zur Begrüßung von Andrew Meyers, hervorbrachte. Es klang fast wie eine Anklage.
    „Findest Du?“, fragte mein Vater und sah scheinbar selbstkritisch an sich hinunter, breitete die Arme ein wenig aus, drehte die Hände mit den Handflächen nach oben und räkelte seine Finger.
    „Merkwürdig. Ich fühle mich gar nicht … tot“, stellte er fest und lächelte. „Komm schon her, mein Junge. Setz Dich zu mir.“
    Auch seine Stimme klang vertraut. Nur war sie volltönender und ebenmäßiger als ich sie in Erinnerung hatte.
    Ich ging langsam und vorsichtig die paar Schritte zum Küchentisch, rückte einen Stuhl zurecht und nahm Platz. Mein Vater schenkte Tee in eine Tasse ein und schob sie mir hin. Das konnte nicht wahr sein. Es war so unvorstellbar, dass ich mich weigerte, daran zu glauben. Mein Vater war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Daran bestand kein Zweifel. Er war eigentlich eine Leiche, die von einer Erdschicht bedeckt war. Und doch saß er nun vor mir und sah mich an – gutmütig, ruhig. Früher hatte immer ein gehetzter Ausdruck in seinem Blick gelegen. Ständig in Bewegung, ständig unter Strom. Es gelang mir nicht, die Situation gedanklich zu durchdringen.
    „Du siehst … anders aus“, sagte ich.
    „Das stimmt. Ich bin anders.“
    „Ja, du bist tot.“
    „Du bist derjenige, der das nun schon zum zweiten Mal behauptet.“
    „Es ist einfach so. Ich habe den Bericht gelesen. Du wurdest eindeutig identifiziert. Aber wieso kann ich Dich dann sehen?“
    „Du kannst mich sehen und siehst mich doch nicht.“
    „Was soll das bedeuten?“ Diese Antwort half mir nicht gerade, die Situation zu verarbeiten. „Du meinst, ich bin verrückt?“
    „Nein, Du bist nicht verrückt – jedenfalls ging es Dir schon schlechter. Ich meine, Du kannst mich nicht so sehen, wie ich wirklich bin.“
    „Bei dem Unfall teilweise verbrannt und mittlerweile verrottet?“
    „Ganz und gar nicht: Ich meine, Dein Verstand kann das Licht nicht fühlen, das von

Weitere Kostenlose Bücher