Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
lange tragen können. Atlas würde in sich zusammenbrechen und unter den Scherben der Welt, die Annabell für ihn bedeutete, begraben. Und McCandle summte.
Ich war drauf und dran, ihm an die Gurgel zu gehen, hatte mich aber noch soweit im Griff, dass ich ihn bloß anfuhr: „Was in drei Teufels Namen summen Sie da, Reverend? Das ist wohl kaum der richtige Moment, Liedchen zu trällern.“
„Verzeihen Sie mir, mein Junge. Ich wollte Sie nicht aufregen. Das können Sie, weiß Gott, nicht gebrauchen. Die Melodie entstammt einem schottischen Volkslied, das mir gerade in den Sinn gekommen ist.“ Und er fing leise an, das Lied Loch Lomond zu singen.
“Finden Sie das passend Reverend?”
Ich konnte mich kaum dazu bringen, ihn nicht anzuschreien.
„Für Sie ist Annabell ja offensichtlich schon tot.“
„Ethan, so ist das nicht gemeint. Wir dürfen hoffen bis zum Schluss. Dieses Lied, Loch Lomond, – ich finde es tröstlich.
„Und was soll daran tröstlich sein, Reverend? Der Erzähler oder das lyrische Ich wird seine Liebste nicht mehr wieder sehen.“
„Nicht gar nicht wieder sehen. An den Ufern Loch Lomonds nicht mehr wieder sehen. Das ist ein Unterschied.“
Er hielt einen Moment inne, um die richtigen Worte zu finden.
„Zu dem Lied gibt es eine kleine Legende: Zwei von Bonnie Prince Charlies Männern wurden nach der missglückten Revolte von 1745 gefangen genommen und in Carlisle zurückgelassen. Ein junger Soldat sollte hingerichtet, der andere freigelassen werden. Der Erzähler des Liedes, der todgeweihte Soldat, kündigt seinem Kameraden an, dass er die ,low road’, den Weg der Geister durch die Unterwelt, nehmen werde und darauf eher in die Heimat zurückkehren werde, als der Kamerad, der die ,high road’ den irdischen Weg über die Berge und unwegsames Gelände nehmen müsste.“
„Annabell ist in der Heimat. Sie ist da, wo sie hingehört.“ sagte ich mit bebender Stimme und fügte in Gedanken „bei mir“ hinzu.
„Das ist sie, Ethan, das ist sie.“
Er legte mir die Hand auf den Arm.
„Was ich tröstlich finde, ist der Refrain. Ich verstehe die Verse immer so, dass der Soldat, den die Freilassung, also das irdische Leben erwartet, einen langen und steinigen Weg vor sich hat, sein Kamerad jedoch, den der Tod erwartet, sich auf einen kurzen und angenehmen Weg in das wahre Schottland, Massachusetts usw., unsere unsterbliche Heimat freuen kann. Verstehen Sie mich richtig: Ich wünsche Annabell selbstverständlich keinen frühen Tod, Ethan. Sie ist so jung. Sie hat aus unserer Perspektive ein ganzes Leben vor sich und ich bete um unseretwillen dafür, dass der Herr sie noch nicht zu sich ruft. Aber wann immer ich dieses Lied höre, erinnert es mich daran, dass der Tod für uns keinen Schrecken zu haben braucht. Das Leben geht mit dem Tode nicht zu Ende, Ethan. Im Gegenteil. Wir vollenden unser irdisches Dasein und gelangen in die wahre Heimat, zu unserem himmlischen Vater.“
Immerzu der himmlische Vater …
Ich wusste, der Reverend wäre für Annabells Fragen zum Leben im Jenseits ein besserer Gesprächspartner gewesen. Aber er hatte ja keine Ahnung. Ich war inzwischen davon überzeugt, dass Annabells Krankheit die Strafe für unsere Liebe war. Eine Liebe, die nicht sein durfte. Eine Liebe, die unnatürlich war. Eine Liebe, die uns dieser Gott neidete, missgönnte. Sie lief seinem Plan zuwider. Wir sollten kein Glück miteinander erleben.
Das Kuriose war, dass ich rein gefühlsmäßig mittlerweile die Existenz eines Gottes für möglich hielt. Ich brauchte jemanden, den ich für die Misere verantwortlich machen konnte, auf den sich mein Zorn richten konnte. Vielleicht kam das von den täglichen Gebeten um Annabells Genesung, die häufig in Flüchen und bösartigen Beschimpfungen meines unsichtbaren Gegenübers gipfelten.
„Aber was ist das für ein Gott, Reverend, der mich für meine Fehltritte bestraft, indem er mir Annabell nimmt. Der ihren Tod will, obwohl sie von allen Menschen der Liebste und Beste ist, den ich kenne? Ein zorniger, neidischer und rachsüchtiger Gott ist das. Und ich hasse ihn.“
Ich hasste Gott. Auch wenn das bedeutete, dass ich in den tiefsten Schichten meines Bewusstseins an ihn glaubte, ich hasste dieses Monster.
„Aber mein Sohn, weder Wohlstand noch Krankheit sind zwangsläufig ein Zeichen für Gottes Gefallen oder Missfallen. Auch Menschen, die nach dem mutmaßlichen Maßstab unseres Herrn Schlechtes tun, geht es nach den gängigen weltlichen
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