Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
Polizisten auf der Party, alles hatte augenscheinlich nur einen Zweck: Man wollte mich aus der Fassung bringen, bevor man mich vernahm. Das zeugte zumindest von einem gewissen Respekt.
Doch in welcher Angelegenheit wollte man mich vernehmen? Nicht als Zeugen, so viel stand fest. Einen Zeugen hätte man am Nachmittag oben empfangen, hätte ihm einen Kaffee angeboten, ein paar Kekse. Nein, ich war Beschuldigter. Aber wessen wurde ich beschuldigt? Konnte es mit Hawthorne zu tun haben? Ein steuerstrafrechtliches Delikt, das er mir anhängen wollte? Ich bezweifelte es. Eine Vernehmung in diesem Loch in der Provinz war vermutlich nicht der Stil des IRS. Oder hatte …
Der Riegel wurde zur Seite geschoben und die Tür öffnete sich. Officer Smith trat ein, fand mich friedlich auf meinem Schemel sitzend und trat beiseite, um dem Mann Platz zu machen, auf den man mich hatte warten lassen:
Lieutenant Osborne war überraschend jung, jünger als ich. Ich schätzte ihn auf unter dreißig – achtundzwanzig vielleicht. Er war groß, hatte die schlanke, trainierte Figur eines Athleten und trug sein Haar streng nach hinten pomadiert. Sein von Natur aus geradezu mädchenhaft hübsches Gesicht wurde von dem harten und verbissenen Ausdruck entstellt, der darin lag. Wortlos nahm er auf dem Bürosessel Platz und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an, in denen Ehrgeiz und Skrupellosigkeit funkelten.
Nachdem er mich eine Weile schweigend studiert hatte, - auch dies wohl in der Hoffnung, mich aus der Ruhe zu bringen - eröffnete er mit kalter, technokratischer Stimme das Verhör, indem er meinen Namen aus einer Akte ablas, die vor ihm lag, so als ob es dieser Gedankenstütze bedürfte, sich meinen Allerweltsnamen zu merken:
„Meyers, Ethan. Ich heiße Sie bei uns willkommen.“
„Ich hoffe, dieses Vergnügen dauert nicht länger als notwendig, Lieutenant“, erwiderte ich gelassen.
„Um das herauszufinden, haben wir Sie heute Abend eingeladen, Mr. Meyers.“
Er betätigte einen Schalter eines altertümlichen Tonbandgeräts, das auf dem Tisch stand.
„Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich unsere kleine Unterhaltung aufzeichne?“
„Das kommt darauf an, in welcher Angelegenheit wir uns unterhalten. Wenn Sie mich einer Straftat beschuldigen, wäre es vielleicht angezeigt, mir dies mitzuteilen und mich über meine Rechte zu belehren, meinen Sie nicht. Es wäre doch ärgerlich, wenn sie den Baum der Erkenntnis gleich hier vergiften.“
Er sah mich irritiert an, so dass ich mich fragen musste, auf welchem Wege er es zum Lieutenant gebracht hatte, und mich bemüßigte, zu erläutern: „Fruit of the poisonous tree [11] ? Nemo tenetur [12] ?Sollten Sie mich nicht über mein Recht, die Aussage zu verweigern, belehren, wenn sich mich in einer gegen mich gerichteten Ermittlung befragen?“
„Das habe ich doch zu Beginn unseres Gesprächs getan, oder etwa nicht?“, antwortete die falsche Schlange glattzüngig in das Tonbandgerät.
„Ich kann mich nicht erinnern.“
„Nun, dann noch einmal für das Protokoll: Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern, wenn Sie sich durch die Aussage selbst belasten würden. Sofern Sie sich entschließen auszusagen, kann alles, was Sie sagen, vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Ich gehe im Übrigen davon aus, dass Sie als Rechtsanwalt nicht belehrungsbedürftig sind.“
„Sie räumen also endlich ein, dass Sie gegen mich ermitteln? Darf ich fragen, weswegen?“
„Wir möchten uns gern ein wenig mit Ihnen unterhalten“, antwortete Osborne betont freundlich.
„Bitte. Wenn Sie es mir noch nicht verraten wollen, fahren Sie doch fort. Wie Sie wissen, habe ich zu Hause Gäste.“
„Zu Hause? Sie leben im Haus Ihrer Schwester, Annabell Lillian Margaret Meyers.“
Ich war mir noch immer unschlüssig, worauf das Ganze hinauslaufen sollte. Gleichwohl hatte ich genügend Vertrauen in meine rhetorischen Fähigkeiten, um das zu tun, was ein Beschuldigter grundsätzlich niemals tun sollte: Ohne einen Verteidiger Fragen in einer gegen ihn gerichteten Ermittlung zu beantworten. Dieser Grundsatz galt für den juristisch nicht geschulten Beschuldigten im Besonderen doch selbst einem Juristen war in eigener Sache die Hinzuziehung eines Verteidigers anzuraten. Die beste Strategie im ersten Stadium laufender Ermittlungen war prinzipiell vollständiges Schweigen. Vor einer Aussage forderte man grundsätzlich die Ermittlungsakten an, studierte in Ruhe, was die Gegenseite in Hand hatte und
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