Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
bereitete zusammen mit dem Verteidiger gegebenenfalls eine wohlüberlegte schriftliche Stellungnahme vor. Teilweises Schweigen konnte im Rahmen eines Prozesses ein ungünstigeres Licht auf den Beschuldigten werfen als die vollständige Verweigerung der Aussage.
„Ich lebe im Haus meiner Halbschwester, zu deren Vormund ich bestellt bin, das ist richtig. Das Haus liegt dort, wo Ihre beiden Kollegen so freundlich waren, mich heute Abend abzuholen, falls Sie vorhaben, mich nach der Adresse zu fragen.“
„Und Sie fühlen sich wohl in unserer schönen Stadt?“
„Ich kann nicht klagen – es sei denn, Sie wollen mir heute Abend einen Grund dazu geben. Verwundert Sie das?“
„Nun ja, Sie kommen aus der Großstadt, wo laxe Moralvorstellungen und ein ausschweifender Lebenswandel an der Tagesordnung sind.“
„Sprechen Sie aus eigener Erfahrung, Lieutenant Osborne?“
„Ganz sicher nicht, Mr. Meyers. Ich frage mich nur, was Sie hier in South Port hält. Unsere Stadt dürfte Ihnen doch nicht die Amüsements bieten, die Sie gewohnt sind.“
„Kann es sein, dass Sie Fremden gegenüber ein wenig voreingenommen sind?“
„Ganz im Gegenteil. Ich betrachte Fremde als eine große Bereicherung für unsere Gemeinde – solange sie sich an unsere Vorstellungen von Sitte und Anstand halten.“
„Das ist interessant. Ich hatte angenommen, Sie wären lediglich dafür zuständig, die Gesetzmäßigkeit des Handelns zu überwachen, nicht die Sittlichkeit.“
„Es war eine private Bemerkung. Aber Moralität und Legalität gehen ja nun einmal in der Regel Hand in Hand.“
„Wenn Sie sich ansehen, wer die Gesetze macht, verwundert es nicht, dass die Schnittmenge manchmal recht klein ist.“
„Sie geben also zu, dass Sie den Vorschriften, die unsere demokratisch gewählten Vertreter erlassen, wenig Achtung entgegen bringen?“
„Ich gebe zu, dass ich einigen dieser Vertreter und den Prozessen, in denen die Gesetze zustande kommen, mitunter wenig Achtung entgegen bringe. Jeder Kriminelle, der etwas auf sich hält, wird jedoch den Gesetzen, die er übertritt, die höchste Achtung entgegen bringen, indem er tunlichst vermeidet, seine Verstöße offenkundig werden zu lassen – ganz so wie ein Polizeibeamter, der einen Beschuldigten nicht über seine Rechte belehrt, dies aber niemals öffentlich zugeben würde.“
„Mr. Meyers, ich verbitte mir derartige Bemerkungen“, antwortete Osborne scharf, kehrte dann jedoch wieder zu dem emotionslosen Tonfall des Bürokraten zurück: „Kommen wir lieber noch einmal auf Ihre derzeitige Wohnsituation zurück. Sie wohnen zusammen mit Ihrer Schwester Annabell.“
„Wie schon vor zwei Minuten freimütig eingeräumt: Jawohl, das tue ich.“
„Sie ist ein sehr hübsches Mädchen, Ihre Schwester, nicht wahr?“
„Das ist sie. Ohne Zweifel.“
„Und Sie leben so ganz allein mit ihr zusammen, einem minderjährigen Teenager, einer kleinen Lolita. Wer würde da nicht schwach werden …“
Nun war endgültig klar, worauf Osborne hinaus wollte. Ich hatte es nicht wahr haben wollen, aber irgendjemand hatte der Polizei einen Hinweis gegeben. Aber wer? Hawthorne? Oder McCandle? Das änderte die Situation grundlegend.
„Ihre Andeutungen gefallen mir ganz und gar nicht, Lieutenant. Wenn Ihnen an meiner Stellungnahme gelegen ist, sprechen Sie klar und offen aus, was Sie zu sagen haben und fassen Sie sich dabei nach Möglichkeit kurz – wie Sie wissen, habe ich Gäste.“
„Uns liegt eine Anzeige gegen Sie vor. Sie werden beschuldigt, Ihre schmutzigen Gelüste an Ihrer Schwester auszuleben, einem unschuldigen Kind aus unserer Stadt. Sie werden beschuldigt, Ihre Stellung als Vormund zu missbrauchen, um das Mädchen gefügig zu machen. Sie haben Ihre Schwester wiederholt missbraucht. Das ist verabscheuungswürdig. Das ist Inzest. Dafür bringen wir Sie hinter Gitter. Ich habe mit dem Büro des Staatsanwalts gesprochen und dort ist man hingerissen von Ihrem Fall. Man gibt mir für die Ermittlungen freie Hand.“
Ich sprang auf.
„Osborne, Sie gehen zu weit“, herrschte ich ihn an. „Ich werde mir Ihre schmutzigen Fantasien meine Schwester betreffend nicht länger anhören. Sie haben keinerlei Beweise außer einer verleumderischen Falschaussage.“
„Setzen Sie sich. Die Anzeige klingt glaubwürdig genug, um uns zu weiteren Ermittlungen zu zwingen. Wir haben heute bereits ein paar Leute zu Ihnen und Ihrer Schwester befragt. Dabei sind ein paar interessante Details zur Sprache
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